Anfang der 90er prägte die in Deutschland lebenden Menschen mit Einwanderungsgeschichte, insbesondere jene aus der Türkei, in einem besonderen Maße, da sich mehrere rassistisch motivierte Attentate innerhalb kurzer Zeit ereigneten. Der Mord- und Brandanschlag auf eine türkeistämmige Familie in Solingen, welcher in der Nacht des 28.05. auf den 29.05.1993 verübt wurde, löschte fast alle Mitglieder, der in einem großen Mehrgenerationshaus wohnenden Familie Genc, aus. In ganz Deutschland kam es zu Solidaritäts- und Protestmärschen. Dem Schock und der Scham folgten Wut und Trauer, die wiederum rivalisierende Gruppen aus ihren Ursprungsländern auf die Straße brachten und in deren Folge es zu heftigen Zusammenstößen kam. Was damals schon nicht unbeachtet blieb, war die Abwesenheit des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl und weiteren wichtigen politischen Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland am Tatort. Das seit knapp 3,5 Jahren wiedervereinte Deutschland, welches für diese unschuldigen Menschen eine neue Heimat war, wurde durch die Xenophobie des Gastlandes zu einem Albtraum.
Plötzlich hatten alle Menschen mit Einwanderungsgeschichte Angst um ihr Leben und fühlten sich als „Ausländer*innen“* nicht mehr sicher in Deutschland. Jegliche Bemühungen, dieses Gefühl loszuwerden und das verlorene Vertrauen wiederherzustellen, wie beispielsweise durch mehr staatliche Prävention, juristische Aufklärungsarbeit und gesamtgesellschaftliche Akzeptanz der Menschen mit Migrationshintergrund, blieben seitens der BRD aus. Auch als die Täter beim bis dato teuersten und aufsehenerregende Gerichtsprozess zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurden, setzten sich keine verbindlichen staatlich initiierten Rassismus bekämpfenden Maßnahmen durch.
Warum?
Das gesellschaftliche Klima der 90er in Deutschland war durch die wirtschaftliche Nachwende-Krise und die umstrittene Grundgesetzesänderung, die eine Einschränkung des Zuwanderungsgesetzes sowie Asylrechts vorsah, sehr angespannt. Dies führte dazu, dass der schon bestehende Fremdenhass in weiten Teilen der deutschen Mehrheitsgesellschaft verstärkt durch Brutalität und bundesweiten Gewalttaten bis hin zu rechtsextremistischen Anschlägen gegen Menschen mit Migrationshintergrund zum Vorschein kam. Hoyerswerda, Mölln, Rostock-Lichtenhagen und Solingen stehen für ein dunkles Kapitel des Rechten Terrors in Deutschland. Damals hätte man vielleicht nicht ahnen können, dass sich solche abscheulichen Kapitel aus der Vergangenheitsgeschichte der Rechten Gewalt wiederholen würden – es folgten jedoch NSU, Halle und Hanau.
Der rechtsextreme Mord- und Brandanschlag in Solingen 1993 jährt sich heute zum 30igsten Mal. Seit 30 Jahren vermag das glühende Feuer von Solingen nicht zu erlischen. Vielmehr flackert das Feuer stumm dahin, da die Überlebenden des Brandanschlags bis heute um Gerechtigkeit kämpfen und auf eine lückenlose Aufklärung durch die deutsche Justiz warten, aber auf eine Mauer des Schweigens und der Gleichgültigkeit stoßen. Das in Brand gesetzte Haus der zum Attentat gefallenen Familie Genc wurde wenige Tage später komplett abgerissen und in der Tatnacht wurden (absichtlich?) Beweisspuren beseitigt.
Warum hat man die noch sichtbaren Überreste des Hauses nicht einfach als Mahnmal stehen lassen?
Appell an die Solidarität mit Solingen 1993
Gerade für die postmigrantische Erinnerungskulturbewegung wäre dies als ein Ort und Schauplatz des kollektiven Gedenkens von zentraler Bedeutung gewesen. Stattdessen werden bis heute in kleinen und begrenzten Räumen Diskurse über Antirassismus geführt, die nur an der Oberfläche der noch längst nicht aufgearbeiteten und durch behördliches Versagen verschleierten Straftaten des Rechten Terrors in Deutschland kratzen. Allein die imaginäre Vorstellung, dass die damaligen Opfer und Zeitzeug*innen rassistisch motivierter Gewalttaten durch solche hypermoralisierte Diskurse mehr Gehör und Gerechtigkeit erfahren, zeugt von der ideologischen Naivität der landesweit agierenden Ermittlungsbehörden, die der Annahme sind, im Namen der BRD und auf Grundlage des Grundgesetzes ausreichend handeln würden.
Bedauerlicherweise reichen solche Herangehensweisen und Handlungsmaßnahmen nicht aus, um denen in mittlerweile 4.-5. Generation lebenden Menschen (post-)migrantischer Community und PoC in Deutschland mehr Vertrauen in den deutschen Staat, die Anerkennung und Akzeptanz als gleichberechtigte Bürger*in der BRD und Gleichbehandlung in allen gesellschaftlichen Bereichen zu gewährleisten. Vielmehr müssten die obersten Riegen der politischen Repräsentanz Deutschlands aufhören, die Täter*innen Rechten Terrors aus der Vergangenheit zu decken, milde Haftstrafen zu verhängen und stattdessen versuchen mit der Offenlegung unter Verschluss gehaltener Akten die Wahrheit ans Licht zu bringen. Darauf sollten juristische Konsequenzen folgen, damit der deutsche Staat für seine von Ausgrenzungserfahrung gebeutelten Mitmenschen ein Zeichen der Solidarität und des Empowerments setzt. Erst dann kann das stumme Lodern des Feuers von Solingen 1993 laut knisternd und gebändigt in unseren verbrannten Seelen erlischen.
*Die Autorin setzt die Bezeichnung „Ausländer*innen“ und die mittlerweile politisch inkorrekte Zuschreibung von Personengruppen mit Einwanderungsgeschichte bewusst in Anführungszeichen, da sie die Ereignisse des rassistisch motivierten Attentats von Solingen 1993 aus der Erzählperspektive des geschichtlichen Kontextes und der damaligen Zeit & Gesinnung schreibt, um sich selbst gleichzeitig von solch einer diskriminierenden Ausdrucksform zu distanzieren.
Text: Dilek Kalin