„Anne, Baba – Das ist mein Alman“

Aus der neuen renk.-Serie "Interkulturelle Beziehungen"

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Die Eltern der Freundin kennenzulernen ist immer nervenaufreibend: Mögen sie mich? Mache ich einen guten ersten Eindruck? Verstehen sie meinen Humor? Und nicht zu vergessen: Kann ich sie davon überzeugen, dass ich der Richtige für ihre Tochter bin?

Zu den Fakten: Ich bin Deutsch. Alle Freundinnen, mit denen ich in den ersten 30 Jahren meines Lebens zusammen war, sind exakt so divers, wie Horst Seehofers Heimatministerium. Dann traf ich Melis. Melis ist auch Deutsch. In Viersen geboren, aufgewachsen in Mönchengladbach. Auf die ewige Frage, wo sie denn eigentlich herkomme, würde sie am liebsten „aus deiner Mudda“ antworten. Aber sie bleibt meist freundlich und sagt, dass ihre Eltern aus der Türkei stammen.

Diese sind Einwanderer erster und zweiter Generation. Seit zehn Jahren wohnen sie – jobbedingt – mit Melis‘ kleiner Schwester Helin in der Schweiz. Ausgewanderte Einwanderer erster Generation. Der Vater spricht Deutsch mit türkischem Akzent, die Mutter mit fränkischem und Helin mit einem leicht schweizerischen. Melis spricht hochdeutsch besser als ich. Warum sollte sie auch nicht?

„Hallo, ich bin hoffentlich der letzte Neue Ihrer Tochter.“

Der Empfang ist herzlich und ich bin nervös. Ich will nicht negativ auffallen und beschränke mich erstmal darauf höflich zu sein. Der Vater spricht am Tisch größtenteils Türkisch und ist ein wenig untersetzt. Die Mutter übersetzt ein wenig und serviert dabei das Essen.

Es gibt selbstgemachte Lahmacun. Auf meine Frage, ob es irgendeine bestimmte Art gibt, Lahmacun zu essen, lächelt die Mutter nur und sagt: „Es gibt keine falsche Art Lahmacun zu essen.“ Nach dem ersten Bissen sagt Helin, während sie eine halbe Zitrone über dem Fleischfladen ausdrückt: „So ist es falsch.“

„Es gibt keine falsche Art Lahmacun zu essen.“

Die Kommunikation am Tisch wechselt ständig zwischen Deutsch und Türkisch. Mein Türkisch ist limitiert auf Small-Talk und einzelne Worte, wie Kosenamen für meine Freundin. Wenn alle lachen, übersetzt hayatim (tr. mein Leben, Kosename) die Geschichte. Meistens geht es darum, was irgendeinem Freund oder einem Verwandten passiert ist. Die Pointen zielen entweder auf „hättest du dabei gewesen sein müssen“ oder „musst du kennen, um zu verstehen“. Insider-Geschichten in einer Insider-Sprache.

Am ersten Abend lächle ich viel und habe kein Problem damit, dass ich nur die Hälfte der Gespräche mitbekomme. Meine Freundin ist nicht häufig bei ihren Eltern in der Schweiz, deswegen schaue ich ihr auch gerne zu, wie sie dieses Wochenende echtes Familienleben genießt. Natürlich habe ich Melis schon vorher Türkisch sprechen hören, aber nie in dieser Quantität und noch nie so vertraut. Ihre Stimme bekommt dann eine wärmere Farbe und klingt etwas tiefer. Es ist nicht so, als würde man plötzlich neben Darth Vader sitzen aber die Stimme ist kräftiger und – soweit ich das als Außenstehender beurteilen kann – selbstbewusster.

Wara Wara – Okey Dokey

Nach dem Essen spielen wir Okey. Ich habe das Spiel vorher nur einmal gespielt und damals war sich Melis nicht ganz sicher, wie die Spielsteine anfangs verteilt werden sollen. Ich schaue aufmerksam zu, wie der Vater mit einer scheinbaren Willkür Steine abzählt und verteilt. Alle anderen nicken. Wir spielen und das kantige Abtasten des Kennenlernens wird bei Tee und Pistazien aufgeweicht. Ich lerne was „Beeil dich!“ auf Kurdisch heißt und wie es sich anfühlt den ganzen Abend in Okey zu verlieren. Dabei läuft eine Playlist von Sezen Aksu. Ich habe noch nie von der Frau gehört aber meine Freundin wird mit jedem Lied, das sie vom ersten bis zum letzten Wort mitsingt, türkischer.

Zuhause in Deutschland höre ich natürlich die Telefonate mit ihrer Familie, bin bei Treffen mit der Cousine und der Tante dabei und habe schon abenteuerliche Sachen probiert („Iss das mal! Das ist Joghurt, der auf Hausdächern getrocknet wurde.“), aber das Türkische meiner deutschtürkischen Freundin ist hier, im Kreise ihrer Familie, besonders ausgeprägt.

„Iss das mal! Das ist Joghurt, der auf Hausdächern getrocknet wurde.“

Gelegentlich frage ich, worum es in den Songs geht. „Liebe“ und „Sehnsucht“ sind die vorherrschenden Themen. Mit diesem poetischen Gehalt stelle ich mir auch die Gespräche vor, die die Familie den Abend über führt. Die türkische Sprache ist blumiger und bis zum äußersten Rand metaphorisch aufgeladen. Mühelos wechselt die gesamte Familie zwischen den beiden Sprachwelten hin und her. Raus aus der türkischen Poesie und rein in den deutschen Kosmos der Bürokratie. Scheinbar werden die beiden Sprachen an unterschiedlichen Orten im Gehirn kreiert. Für einen Moment muss der deutsche Sicherheitsgedanke besprochen werden und es fallen Worte wie „Haftpflichtversicherung“, „Altersvorsorge“ und „Ausbildungsvertrag“. Die ungelenken deutschen Worte in der türkischen Satzmelodie wirken wie ein saftiger Adana Kebab auf den man Cocktailsauce schüttet.

SUCUK?! Der Vater hat gerade eindeutig Sucuk gesagt. Gut möglich, dass sie gerade über’s Essen reden.

Nach den effizienten Begrifflichkeiten geht es wieder zurück auf die verträumte, osmanische Sprachseite. Ich lege einen Okey-Stein und lausche der Familie, wie sie sich angeregt unterhalten. Vielleicht reden sie über einen Dichter, vielleicht über einen Denker, vielleicht über… SUCUK?! Der Vater hat gerade eindeutig Sucuk gesagt. Gut möglich, dass sie gerade über’s Essen reden. Es ist schwer, in dieser Sprache die Banalität des Alltags zu vermuten, aber nach einer weiteren Übersetzungsrunde meiner Freundin, weiß ich nun, was es morgen zu Essen gibt.

Anschließend helfe ich Melis‘ Mutter in der Küche, indem ich die Teller in die Spülmaschine räume. In der Maschine ist eine Zitronenscheibe, damit es nicht zu Gerüchen kommt. Nach dem zweiten Teller lächelt die Chefin und schickt mich weg. Da ich die Teller nicht vor dem Maschinengang in der Spüle gereinigt habe, disqualifiziere ich mich vom Küchendienst. Ich sei schließlich Gast.

Bir lisan, bir insan. Iki lisan, iki insan. (tr. Eine Sprache ein Mensch, zwei Sprachen zwei Menschen)

Das Frühstück ist angerichtet und es sieht genauso aus, wie das Frühstück, das meine Freundin regelmäßig versucht Zuhause zu rekreieren. Eier, Ekmek (tr. Brot), allerlei Aufstriche, Çay (tr. Tee), Marmelade, Kaffee und Oliven. Das Nötigste halt. Außerdem geht eine halbe Zitrone reihum und mit ihr werden allerlei Geschmacksvariation aufgepimpt. So wie in dem Haushalt, in dem ich aufgewachsen bin, mit dem Salzstreuer. Das Çay-Eingießen wird zelebriert und die Çay-Qualität wird kommentiert. Melis bietet mir Oliven an. Auf ihrem Teller liegen inzwischen 16 Olivenkerne. Sie sieht glücklich aus.

Jede Familie spricht ihre eigene Sprache.

Ich habe an diesem Wochenende nicht nur die Eltern neu kennengelernt, sondern auch meine Freundin. Alle geben sich die Zutaten kreuz und quer über den Tisch an. Der Vater macht sich die Hände frisch, indem er den Saft aus der Zitrone presst und dann zwischen seinen Pranken verreibt. Ein buntes Treiben – es wird sich geneckt und später ist noch ein Ausflug nach Zürich geplant. Ich fühle mich gut und die Nervosität ist verschwunden.

Jede Familie hat ihre Besonderheiten und ihre Art zu kommunizieren. Jede Familie spricht ihre eigene Sprache. Die Szenerie ist für mich teilweise wie in einem ausländischen Film, bei dem die Untertitel noch nicht angeschaltet sind. Ich weiß noch nicht viel über diesen Film aber ich weiß, dass es ein guter wird. Und dass Zitronen eine Hauptrolle spielen.

Text: Martin Mayntz
Illustrationen: Johanna Olga // www.johannaolga.de

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