Auf Tuchfühlung mit den eigenen Wurzeln

Eine Reise durch die Türkei von Katadrom

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Manchmal fühlt man sich etwas verloren, wenn man sich Fragen zur eigenen Identität stellt oder von außen damit konfrontiert wird. Wo liegt meine Heimat? Welchen Bezug habe ich zu meiner Herkunft? Beherrsche ich die Sprache meiner Eltern?  

Auf einer Reise quer durch die Türkei konnten sich acht Istanbuler, deren Eltern aus ländlichen Gebieten in die Großstadt gezogen sind, gemeinsam mit acht jungen Leuten deutsch-türkischer Herkunft, darunter auch Melisa, gemeinsam diesen Fragen stellen. Sie wird hier erzählen.

„Geçmişten Gelen Ortak Paydalar“ (Gemeinsamkeiten aus der Vergangenheit) hieß das zehntägige Projekt, das vom Verein KATADROM: Kunst, Kultur und soziale Politik ins Leben gerufen wurde, und der Gruppe die Gelegenheit bot, Regionen der Türkei zu erkunden, die zuvor fast niemand je besucht hatte. Die Aufzeichnungen, die während der Reise entstanden sind, sollen schließlich in Form eines Dokumentarfilms erscheinen.

Alle in einem Boot 

Nach der Ankunft in Istanbul begegneten sich alle Teilnehmer_innen in den Räumlichkeiten des Vereins. Das gemeinsame Abendessen eröffnete die Möglichkeit ins Gespräch zu kommen und das Eis zu brechen. Woher kommst du? Was machst du? Was erhoffst du dir von diesem Projekt? Fragen, die auf Türkisch gestellt und von mir eher zaghaft und einsilbig beantwortet wurden. Der unsichere Umgang mit der türkischen Sprache bereitete nicht nur mir Sorgen. Auch andere deutsche Teilnehmende sahen darin eine Herausforderung.

Erwartungsgemäß teilte sich die Gruppe zunächst in ein deutsches und  in ein Istanbul-Lager, die sich nach ersten Gesprächen aber schnell auflösten.  Man erzählte sich von Party- Anekdoten und peinlichen Eskapaden, berichtete von Reisen, und stellte fest, dass man sich in vielerlei Hinsicht ziemlich ähnlich ist. 

Am nächsten Tag erkundeten wir Beyoğlu und Fatih, Istanbuls wohlmöglich geschichtsträchtigste Stadtteile. Einer der Teilnehmer konnte uns aufgrund seines umfassenden historischen Wissens viel über die Bauten und Sehenswürdigkeiten der Stadt erzählen. Wir erfuhren zum Beispiel, dass Hezarfen Ahmed Çelebi, ein türkischer Luftfahrer, Mitte des 17. Jahrhunderts mit selbstgebauten Flügeln vom Galata-Turm sprang, den Bosporus überquerte und auf der asiatischen Seite landete.

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Juwelen des Ostens 

Unsere eigentliche Reise begann erst am folgenden Tag. Morgens um fünf machten wir uns auf zum Flughafen – für die meisten von uns eindeutig zu früh.

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In Mardin, einer der ältesten Städte der Türkei, erlebten wir das Land von einer ganz anderen Seite. Die Stadt liegt an einem Hügel, ungefähr zwanzig Kilometer nördlich der syrischen Grenze. Auf dem Gipfel thronen die Überreste der Hamiden-Zitatelle, welche im späten 10. Jahrhundert erbaut wurde. Die Stadt wurde unter anderem von den Aramäern, Babyloniern, Persern, Römern und Osmanen beherrscht, und weist somit Prägungen verschiedenster Völkergruppen auf.

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Neben einer Medrese, also einer Schule islamischer Theologie, besuchten wir auch das ca. 1500 Jahre alte syrisch-orthodoxe Zafaran Kloster. Die Anlage ist von einer hohen Mauer umgeben und befindet sich in einer von der Sonne verbrannten, kargen Ebene.

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Das gemeinsame Umherreisen, fernab von allem Vertrauten, brachte die Gruppe allmählich zusammen. Während der holprigen Fahrten im Minibus hatten wir ausgiebig Zeit, uns auszutauschen und kennenzulernen. In unserer freien Zeit erkundeten wir Städte und Landschaften auf eigene Faust, nahmen uns viel Zeit für Mokka-Pausen und unterhielten uns über Musik, worauf eine Person zu singen begann und der Rest in den melancholischen Gesang einstimmte.
An einem Abend landete ein Teil der Gruppe auf einer türkischen Hochzeit und feierte ordentlich mit, tanzte Halay und kehrte entkräftet zurück. Ein anderer Teil ging auf die Straßen Mardins und feierte ausgelassen die Vertreibung der IS-Miliz aus der nordsyrischen Stadt Kobanê.

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Von Mardin brachen wir nach Mersin auf und erwarteten schon gespannt das Meer. Wir stiegen nachts in den Bus und Melisa und ich nisteten uns in der ersten Reihe ein. Nachdem wir uns eine Weile unterhalten hatten, kamen wir in den Genuss authentischer türkischer Dienstleistungsmentalität: Der Fahrer stoppte den Bus und wies uns zurecht, was uns denn einfiele, sich so laut zu unterhalten, und dass çekirdek çitlemek (Sonnenblumenkerne knacken) im Bus natürlich strengstens verboten sei. Er war kurz davor uns rauszuschmeißen. Mit dem Versprechen, ab sofort leise zu sein, konnten wir ihn jedoch etwas besänftigen, so dass er fluchend weiterfuhr. Zu unserer großen Überraschung lud er uns bei der nächsten längeren Pause dann aber zum Frühstück ein. Anscheinend tat es ihm wohl doch leid, uns so angedonnert zu haben. In Mersin durften wir zwei entspannte Tage genießen. Wir besuchten die Kız Kalesi, eine Inselburg direkt an Küste, und die Überbleibsel von Korykos, einer antiken griechischen Stadt. Später besichtigten wir die Ruinen des Theaters von Elaiussa Sebaste, wo der frische Duft von Zitronenbäumen in der Luft hing. Abends liefen wir an Mersins Promenade entlang und veranstalteten ein kleines Tanzfest mit türkischer Musik aus den Lautsprechern unserer Handys.

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Unsere letzte lange Busfahrt führte vom Warmen ins kalte, verschneite Malatya. Dort fuhren wir hinauf zum Levent Vadisi, einem unglaublich tiefen Canyon, dessen Ausmaß kaum bildlich festgehalten werden kann. Es war zwar eisig kalt, aber zumindest konnten wir uns während einer Schneeballschlacht ordentlich austoben.

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Zurück in Istanbul fühlte es sich gut an, diese vollgepackte Woche hinter sich lassen zu können. Das ständige Aufmerksamsein, das lange Reisen und die angeregten Unterhaltungen auf unterschiedlichen Sprachen zehrten an unseren Kräften. Am letzten Abend fanden wir uns in einem Lokal zusammen, in dem türkische Hits rauf und runter gespielt wurden, begossen die gemeinsame Zeit und tanzten wild bis in den Morgen. 

Es ist erstaunlich, wie eine Gruppe von Menschen in so einer kurzen Zeit derart zusammengebracht werden kann. Viele von uns fühlten sich viel sicherer im Umgang mit der türkischen Sprache, unser Gruppengefühl ließ keinen Raum mehr für unnötige Scheu und wir alle haben Freundschaften geschlossen, die fernab von Festungen, Stadtmauern und Ruinen weiterleben können.

Credits
Text und Fotos: Serkan Ünsal

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