„Die Stadt“ nennen die Griechen liebevoll Istanbul, da die schönste Stadt der Welt keines Namens bedarf. Sie ist bei Flaneuren insbesondere für ihr antikes Erbe und ihre kulturell vielfältige Bausubstanz beliebt. Viele Reiseführer erschöpfen sich jedoch in der Darstellung der historischen Monumente Istanbuls. Sie tendieren dazu, die Stadt als ein Open Air Museum zu präsentieren. Dabei wird die moderne türkische Architekturbewegung unberechtigterweise vernachlässigt. Der „Architekturführer Istanbul“ von Hendrik Bohle und Jan Dimog ist daher einmalig, weil es dem Leser einen spannenden architektonischen Rundgang durch die Geschichte bis hin zur Moderne ermöglicht.
„Die Stadt Istanbul, deren Antlitz
schön und lieblich ist wie das
Strahlen der zarten Jünglinge und
deren angenehmes, leicht und köstlich
zu genießendes Wasser zuckersüßem
Scherbet gleicht,
deren die Seele erfrischende
moschusduftende Luft an die krausen
Schläfenlocken ihrer graziösen Geliebten
gemahnt,
deren Gazellenaugen neckisch und
vollkommen sind wie der dunkle Fleck auf
der Wange des Geliebten und deren
Bewohner Antlitze tragen wie die im
höchsten Paradies lebenden Huris.“
(verliebter Dichter, 16.Jahrhundert,
aus „Istanbul“ von Klaus Kreiser)
Die melancholische Kuppellandschaft der historischen Halbinsel mit ihren Minaretten, der Charme würziger Gassen, der Gebetsruf, die Patina der Altstadtfassaden, vorbeihuschende Händler und die ältesten Basare der Menschheit sind typische Verbildlichungen verschiedener Istanbul-Reiseführer.
Der Mensch erschafft die Stadt, die Stadt anschließend den Menschen.
Natürlich ist an einem Ort mit einer 2600 Jahre alten Stadtbesiedelung ein Blick auf die Geschichte unumgänglich. Doch so gewinnt die moderne Architekturbewegung in der Türkei auch weltweit immer mehr an Gewicht. Das urbane Verständnis und Interesse rücken immer mehr in den Fokus einer emanzipierteren Zivilgesellschaft innerhalb der Türkei. Das Bewusstsein für Pluralität und das Verlangen nach zivilem Mitspracherecht, auch in der Stadtplanung gewinnen an Bedeutung. Frei nach dem Motto: „Der Mensch erschafft die Stadt, die Stadt anschließend den Menschen.“
So enthalten viele moderne Bauten, traditionell vorangegangene Elemente. Moderne Wohnanlagen reichen der osmanischen Bauweise die Hand und diese wiederum weisen der heutigen Formgebung den Weg. Die Architekturbewegung des 20. Jahrhunderts in Istanbul ist insbesondere auch aus deutscher Sicht eine spannende und historisch bemerkenswerte Zeit. Sie ist von gegenseitiger Einflussnahme und kulturellem Austausch geprägt. Während des Zweiten Weltkrieges suchten unzählige deutsche Akademiker Zuflucht in der Türkei.
Zeitgleich erfand sich die junge türkische Republik politisch neu –modern säkular, offen und weltgewandt. Viele deutsche Akademiker fanden Platz in den reformierten Fakultäten und Institutionen einer neuen politisch-architektonischen Ausrichtung. Deutsche Exilarchitekten wie Bruno Taut, Ernst Egli und Paul Bonatz beeinflussten das neue Stadtbild von Istanbul und der neuen Hauptstadt Ankara. Sie prägten viele türkische Architekten, ehe sich im Verlauf auch dort der internationale Stil durchsetzen sollte.
Heute stellt die Metropole, die zu einem Magnetpol der gesamten Region herangewachsen ist, einen Schmelztiegel zwischen der Tradition des Islam und weltoffenen und stärker emanzipierten Städtern dar.
Der „Architekturführer Istanbul“ veranschaulicht all diese Tiefen, Überschneidungen und die architektonische Chronologie spielerisch und begleitet den Leser auf einen Spaziergang durch die facettenreichen Epochen: Byzanz, Osmanisches Reich, Türkische Republik. Von den großen Bauten und Meistern der Osmanen wie Mimar Sinan vollziehen die Autoren einen fruchtbaren Brückenschlag über Architekten der ersten und zweiten nationalen Architekturbewegung wie Vedat Tek und Kemalettin Bey über die Bauten der jungen türkischen Moderne von Sedad Hakkı Eldem hin zur hiesigen Architekturszene.
Dabei sind durchweg in Form von Interviews sogenannte „Gespräche“ eingestreut; Studenten und Kuratoren kommen zu Wort. Insbesondere nehmen die großen Stars wie Emre Arolat und Murat Tabanlıoğlu zu aktuellen soziopolitischen Themen Stellung. Kritische Analysen zum aktuellen Bauboom, zur Gentrifizierung der alten Stadtteile und urbanpolitischen Aktionsflächen vor allem während der Gezi-Proteste 2013 runden das Buch ab, ohne sich zu sehr in Theorie zu verlieren. Ein äußerst gelungener Architekturführer mit einer klaren Sprachwahl, der mit atmosphärischen Farbfotos, Infografiken, Stadt- und öffentlichen Nahverkehrskarten abgerundet ist.
Credits
Text: Hakan Dağıstanlı
Fotos: Melisa Karakuş