Keine Frage: Wir alle leben aktuell in turbulenten Zeiten, in der wir unabhängig von soziodemographischen Merkmalen wie Alter, Geschlecht oder Herkunft unseren Selfcare-Muskel trainieren sollten.
Die Welt wird durch Medienberichterstattungen zunehmender aufmerksamer für rassistische Ungerechtigkeit. Dies ist auch nicht verwunderlich, da allein in die letzten 2 Jahren die Rate von politisch motivierten Straftaten gestiegen sind. Das Bundeskriminalamt (BKA) hat im vergangenen Jahr in Deutschland 44.692 politisch motivierte Straftaten registriert. 2020 zeichnete sich der höchste Stand seit Einführung der Statistik im Jahr 2001.
Quelle: Bundeskriminalamt, Politisch motivierte Kriminalität 2020 – Vorstellung der Fallzahlen in gemeinsamer Pressekonferenz (2021)
Mehr als die Hälfte dieser Straftaten, insgesamt 23.604 sind Straften aus rechtensradikalen Motiven. Fälle, die für ein großes mediales Aufsehen sorgten, wie die von Hanau sind nur also nur wenige davon. Das Teilen von solchen Nachrichten, die sich mit sozialen und rassistischen Ungerechtigkeiten befassen, kann für Betroffene emotional höchst beanspruchend sein. Besonders für diejenigen, die persönlich von diesen Themen und Problemen betroffen sind oder sich aktiv für Veränderungen einsetzen stellen Nachrichten wie diese eine große Herausforderung dar.
Und doch, während sich das soziale Engagement gegen tief verwurzeltem institutionellem und strukturellem Rassismus ermächtigend und befreiend anfühlen mag, sei es einfach durch Support via Social Media oder Aktivismus auf den Straßen, kann der ständige Ausstoß von Energie und Emotionen auch zu Erschöpfung, Überwältigung und im schlimmsten Fall für Betroffene zu ReTraumatisierung führen. Gerade als BIPoC wird man häufig mit Fremdzuschreibungen konfrontiert, mit Medienberichten über rassistische Angriffe konfrontiert und muss sich mit Stigmata auseinandersetzen. Deshalb ist eine Selfcarepraxis enorm wichtig.
In Zeiten wie diesen reicht ein Schaumbad nicht aus, um den Last der Geschehens von sich zu waschen. Aber mal ganz praktisch gedacht, ohne viel Aufwand: Wie können diejenigen, die von sozialer und rassistischer Ungerechtigkeit betroffen sind oder sich aktiv engagieren, in diesen Zeiten für ihre mentale und emotionale Gesundheit langfristig und nachhaltig sorgen?
“Caring for myself is not self-indulgence, it is self-preservation, and that is an act of political warfare.”
deutsch: Selbstfürsorge ist kein Luxus. Es ist Selbterhaltung und damit ein Akt der politischen Kriegsführung“
― Audre Lorde , Schriftstellerin und Aktivistin.
Community
Menschen haben seit Anbeginn der Zeit durch unterstützende Communitys gestärkt. Sich mit Gleichdenken auszutauschen kann ein Zugehörigkeitsgefühle schaffen und damit deine Selfcarepraxis unterstützen. Gemeinsame Gespräche über Rassismus mögen unangenehm sein, aber gerade am Rande des Unbehagens können wir am meisten lernen und wachsen. Community und Austausch über kulturelle und soziale Identität ist heilsam, um Resilienz zu kultivieren. In Zeiten wie diesen ist es smart in den Austausch mit anderen BIPoC’s zu treten, die dich bis auf die Knochen nachvollziehen können. Auch themenbezogene Onlineangebote, Podcasts, Bücher oder Dokumentationen können dir helfen, um dich zu erinnern, dass du mit all deinen Erfahrungen und deiner Trauer nicht allein bist.
Minimiere deine Social Media Aktivität
Viele BIPoC’s – mich eingeschlossen – fühlen sich verpflichtet, Zeuge dessen zu sein, was gerade passiert. Die neusten Artikel zu lesen, sich die Fotos und Videos von Protesten anzusehen, jeden einzelnen Post zu lesen und fast als Pressesprecher*in für die gesamte Community einzustehen, in dem wir an etlichen Onlinediskussionen teilnehmen und uns klar positionieren.
Good News: nein, das musst du nicht, das müssen wir nicht. Nehme Abstand von dem Oversharing, denn Social Media kann ein riesiger Stressfaktor werden, wenn wir in das ewige Hamsterrad des Scrollings fallen. Wenn du dir Nachrichten durchliest, dann prüfe aus welcher Quelle die Informationen stammen, mit denen du dich beschäftigst. Sind die Informationen valide, oder reproduzieren sie im schlimmsten Fall sogar Stigmata? Viele Accounts, denen anfänglich folgten, weil sie inspirierend und erkenntniserweiternd sind, oversharen inzwischen vielleicht. Dafür gibt es den Unfollow-Botton.
Finde deinen Weg, um mit Rassismus umzugehen.
Ganz gleich, ob du selbst betroffen bist, oder als Ally einstehen möchtest. Als Betroffene*r oder Zeuge von rassistischem Verhalten hast du dich vielleicht schon mal wie erstarrt oder wütend gefühlt. Persönliche habe ich weder in der Schule, noch innerhalb der Familie Möglichkeiten kennengelernt, um konstruktiv mit Rassismuserfahrungen umzugehen.
Viele Menschen fühlen sich sehr unbeholfen um gegen rassistische Angriffe einzustehen, weil sie nicht wissen, wie. Rassismus ist nicht nur eine individuell Erfahrung, sondern betrifft das Kollektiv. Viele Fehler in der Geschichte wurden korrigiert, als Menschen ihr Unbehagen überwanden und sich zu Wort meldeten. Denken wir dabei an Wahlrecht, Gleichberechtigung, Menschenrechte. Lerne darauf aufmerksam zu machen, welche Bemerkungen oder Handlungen intolerant waren.
Vorurteile und Stigmatisierung sind nicht angeboren. Sie sind erlernte und sozialisierte Verhaltensweisen – und sie können auch wieder verlernt werden.
Grenzen setzen
Besonders als BIPoC erleben wir häufig Situationen, in denen wir uns fühlen, als würden wir eine Stellung zu den aktuellen Geschehnissen beziehen müssen. Lerne, dich davon abzugrenzen, indem du dir bewusst wirst, dass dein kultureller Hintergrund nur ein Teilaspekt deiner komplexen Identität ist und du dich von den zugehörigen Herausforderungen abgrenzen kannst. Werde dir bewusst, dass es innerhalb der Heterogenität auch eine Individualität gibt.
Grenzen zu setzen ist eine Art, für dich selbst zu sorgen. So, wie Audre Lorde es tat. Dabei geht es um, kurz gesagt, zu wissen, wie man seine Emotionen und Themen von denen der anderen Menschen trennt und sich eine Pause von der Außenwelt nimmt. Es geht darum, nein zu sagen, ohne dass dich ein schlechtes Gewissen plagt.
Text: Gonca Temurcin