Kolektif Istanbul

Die Hochzeitsparty ohne Braut und Bräutigam

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Kolektif Istanbul kommen, wie der Name bereits verrät, aus der Metropole am Bosporus und haben durch den Einsatz von Gayda (dt. Dudelsack), Klarinette, Saxofon, Akkordeon, Tuba, Perkussion, Schlagzeug sowie die seraphische Stimme von Aslı Doğan eine enorme Bandbreite an musikalischen Genres zu bieten. Sie verbinden traditionelle, anatolische und thrakische Melodien und Rhythmen mit Funk, World und Jazz und erschaffen somit eine pausenlos tanzbare Melange. Vielleicht definieren sie selbst ihre Musik aus diesem Grund als „progressive Hochzeitsmusik“. Durch Bauchtänze oder einzigartige Improvisationen, die unter anderem durch die Energie des Publikums geprägt ist, wird auch ihre Live-Show zum Spektakel.

Vor dem unvergesslichen Gig, im Kulturbunker in Köln, trafen wir den Multi-Instrumentalisten Richard Laniepce und die Sängerin sowie Trompete-Spielerin Aslı Doğan und führten ein äußerst unterhaltsames Gespräch, während wir an unseren Drinks nippten. 

Die erste Frage geht an dich, Richard. Im Jahr 2001 plantest du, drei Monate in Istanbul zu verbringen. Aus den drei Monaten wurden heute zwanzig Jahre. Was zog dich dorthin?

Richard: Ich hielt mich eine lange Zeit im Balkan auf, betrieb Musikforschung und sammelte diverse Instrumente und alte Vinylplatten. Ende der Neunziger entwickelte sich dort eine depressive Stimmung. Alle waren sehr bedrückt  (wahrscheinlich aufgrund der Jugoslawienkriege, Anm. d. Red.). Als ich dann nach Istanbul reiste, begegnete ich einer großartigen Laune. Hier waren die Menschen trotz allem glücklich – auch wenn dies mittlerweile nicht mehr der Fall ist. Istanbul war zudem ein Ort, an dem ich meine Musikforschung mühelos weiterführen konnte, weil diese Stadt mir die Möglichkeit gab, mich sowohl auf Balkanmusik, als auch auf anatolische Musik zu konzentrieren. Sie wurde zum Mittelpunkt meines Lebens.

Bereust du es denn, dort geblieben zu sein, wenn du die heutige Lage betrachtest?

Richard: Definitiv! (Gelächter) Eigentlich würde ich das nicht unbedingt als Reue bezeichnen. Vielmehr finde ich es traurig, dass sich die positive Stimmung zum Negativen entwickelt hat. Vielleicht wäre es erträglicher, wenn ich noch eine Alternative zu Istanbul hätte, aber da diese Stadt zum Zentrum meines Lebens geworden ist, wird sie mir manchmal zu viel.

Aslı: Seit fünf Jahren ist alles so schwierig geworden! Corona ist nur ein von mehreren Problemen. Eine Zeit sah man in den Nachrichten ständig verheerende Bombenanschläge. Die türkische Währung verliert weiterhin extrem an Wert. Das erschwert uns das Leben enorm. Unsere Intention ist nicht, das Land für immer zu verlassen, jedoch wollen wir mehr Zeit im Ausland verbringen, um etwas aufzuatmen. 

Euer Album Kısmet (dt. Schicksal) wurde vor Kurzem veröffentlicht. Warum habt ihr es auf diesen Namen getauft? Hat es zufällig etwas mit Corona zu tun?

Aslı: Ja, hat es, denn wir befanden uns in einer Zeit, in der wir nicht mehr weiterwussten. Eigentlich war das Album schon fertig aufgenommen und sollte im April 2020 veröffentlicht werden. Was danach passiert ist, wissen wir ja alle. Wie wird es weitergehen? Wie lange wird die Pandemie dauern? Wo und wie werden wir unsere Leben fortführen? Zig Fragen, über die wir uns Gedanken machten, die wir jedoch nicht beantworten konnten. Wir fühlten uns innerlich leer und wussten nicht, wann wir unser Album veröffentlichen können. So verschoben wir ständig das Releasedatum. Genau nach einem Jahr, zum einjährigen Jubiläum des Albums, kamen wir zu dem Entschluss, dass das wohl das „Schicksal unseres Albums“ ist und beschlossen uns, das Album nun zu veröffentlichen. Da wir nichts anderes mehr als Kısmet zu sagen hatten, tauften wir es auf ebendiesen Namen.

Ihr definiert euren Stil als „Progressive Hochzeitsmusik“. Obwohl diese Musik mit Vorurteilen behaftet ist, schafft ihr oder Bands wie Altın Gün es, sie aufzulösen. Wie seht ihr das? 

AslıZu Beginn wurde unsere Musik als Balkanmusik bezeichnet, aber hauptsächlich sind es Hochzeiten, die unsere Musik prägen. Das Hauptziel der Hochzeitsmusiker*innen ist es, die Gäste zum Tanzen, eher gesagt zum Bauchtanzen zu bringen. Sie investieren ihre gesamte Energie darin. So handhaben wir es auch, frei nach dem Motto “not to play the music, to play with the music”. Auch wenn Hochzeitsmusik eher pejorativ betrachtet wird, lieben wir das Hochzeitsrepertoire wirklich sehrInsbesondere Roma-Hochzeiten in Bulgarien stellen die Hauptquelle unserer Musik dar. 

Aslı, wie ist es, die einzige Frau der Band zu sein? Gibt es manchmal Komplikationen oder Momente, in den du dich nicht verstanden fühlst?

AslıMit Sicherheit gibt es Schwierigkeiten, aber vielleicht hätten wir bei sechs Frauen andere Schwierigkeiten gehabt. Es sind eher Vorteile, die mir dadurch gewährt bleiben, die einzige Frau in der Band zu sein. Auf der anderen Seite bringt dieser Zustand viel mehr Arbeit mit sich, denn die meisten Entscheidungen liegen bei mir und auch die ganze Verantwortung der Band trage ich selbst. Manchmal habe ich das Gefühl, dass von mir eine Art Mutter-, Schwester- oder wegweisende Rolle erwartet wird. Das kann manchmal anstrengend sein. Trotzdem sehe ich als Frau keine großen Nachteile.

Trotz der dunklen Phase in der Türkei, die schon seit einiger Zeit herrscht, schafft ihr es, eine positive Haltung zu wahren und spiegelt damit eigentlich den Zustand der Gesellschaft im Land wider. Welcher Kolektif Istanbul-Song beschreibt eurer Meinung nach den aktuellen Zustand am besten?

Aslı: Hamamcı Teyze (dt. Bademeisterin/Masseurin im türkischen Badehaus, hier umgangssprachlich Hamam Tante)! Dieses Lied repräsentiert den Frust, der sich in einem breit macht, wenn man verzweifelt nach einer Behörde sucht und einfach keine findet, die dich ernst nimmt. Symbolisch betrachtet, stelle ich mir bei dem Song eine große Frau vor, mit der ich mich über Probleme austauschen kann. Acımadı yine (dt. Es tat schon wieder nicht weh.) war auch so ähnlich, gleich nach dem Putschversuch 2016. Die Menschen schafften es trotz der prekären Lage, eine Bindung untereinander einzugehen. Bei dem Song geht es um eine „pessimistische Hoffnung“. Es muss nicht alles wieder gut werden. Auch ich glaube nicht daran, dass alles wieder gut wird. Dennoch sind wir dazu verpflichtet, das Beste aus den bestehenden Verhältnissen zu machen.


Ist eure Musik politisch?

Aslı: In der Türkei ist selbst das Atmen ein politischer Akt. Was auch immer wir tun, es ist immer politisch.

Was für eine Absicht verbirgt sich hinter Eurer Musik?

AslıAlles beiseiteschieben zu können und gemeinsam die Hüften zu schwingen, sowie singen zu können. Wir sind eine heterogene Band; wir kommen aus verschiedenen Ecken, spielen seit sechzehn Jahren an den unterschiedlichsten Orten, vom Montreux Jazz Festival, über Brasilien, Afrika, Erbil, Türkei, bis hin zu den diversesten Ecken in Europa. Uns verbindet der Drang, dass die Menschen sich wohl fühlen.

Interview und Übersetzung: Selin Bahar Sarıkaya & Berivan Kaya
Lektorat: Vildan Çetin
Fotos: Nathan Dreessen

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