Goldgelbe Ornamente verzieren das dunkelblaue Cover des Bestsellers und lassen an einen sternendurchzogenen Nachthimmel in der arabischen Wüste denken. Die Weisheiten, die die Lektüre lehrt, sind das Wasser des durstenden Wüstenvolks. Khalil Gibrans Sammlung poetischer Prosatexte „Der Prophet“ ist nun 90 Jahre alt. Sie umfasst 76 Seiten, hinter denen 25 Jahre Arbeit stecken.
Poesie und Wanderlust
Das Buch handelt von dem Propheten Al-Mustapha, der seit zwölf Jahren in der fremden Stadt Orphalese lebt. Als endlich das Schiff ankommt, das ihn in seine Heimat bringen soll, wird er von den Bewohnern der Stadt gebeten, ihnen die Geheimnisse des Lebens zu offenbaren.
Das Werk ist ummantelt von Metaphern und Paradoxa. In seinem Stil und seiner Sprache ähnelt es den christlichen Evangelien. Gibran verarbeitet auf eine poetische und mystische Weise sein Leben: den Tod seiner Familie, die Flucht aus dem Libanon und die politische Ungleichheit in seinem Herkunftsland.
Khalil Gibran war ein amerikanisch-libanesischer Maler, Dichter und Philosoph.
Er schrieb viele Bücher, aber keines verkauft sich bis heute so häufig wie „Der Prophet“.
Wer war Khalil Gibran für ein Mensch? Und was ist das Geheimnis hinter seinem Werk „Der Prophet“?
„Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind Söhne und Töchter des Verlangens des Lebens nach sich selbst.“
Es ist der 6. Januar im damaligen osmanischen Reich und heutigen Libanon. Das Jahr 1883 ist gerade frisch geboren, als Khalil die ersten Lichtstrahlen der warmen Sonne in der Stadt Becharré erblickt. Er befindet sich im Schoß einer christlich-maronitischen (älteste christliche Religionsgemeinschaften im Libanon) Familie. Mit einem Großvater als Priester und Verwandten, die als Sufisten (Sufismus: philosophische Strömung aus dem Islam) leben, kommt Gibran sehr früh in Berührung mit verschiedenen Religionen und Philosophien. Er hat einen Zugang zum Christentum und zum Islam. Sein Geburtstag fällt auf den Tag des Epiphaniasfestes, die Nacht der Erscheinung des Sterns von Bethlehem. So wurde seine mystische Veranlagung Gibran offenbar mit in die Wiege gelegt.
Als er 11 Jahre alt ist, kommt sein Vater wegen finanziellen Betrugs ins Gefängnis. Auf Grund von finanziellen Notlagen immigriert der Sohn im Alter von 12 Jahren mit seiner Mutter, seinem Bruder und seinen Schwestern zu Verwandten nach Boston/USA.
Die Schiffsreise dorthin ist später ausschlaggebend für seinen millionenfach verkauften Bestseller „Der Prophet“.
In Boston ist Khalil in seiner Familie der einzige, der Bildung genießen darf. Seine Geschwister und seine Mutter müssen arbeiten, um Armut zu verhindern.
In der Schule entdecken seine Lehrer schnell seine Affinität für Dichtung und Poesie.
Sein künstlerisches Talent und sein Ruf als Muse verschaffen ihm mit 19 Jahren ein Stipendium. Gibran ruht sich nicht aus auf seinem privilegierten Status: Um in der klassischen arabischen Literatur, Französisch und Kunst ausgebildet zu werden, reist er zurück nach Beirut. Gibrans Gedanken zu seiner Wanderlust:
„Es war meine Sehnsucht nach Weisheit, die mich die Meere durchqueren ließ.“
Er schreibt sich in der „Hikmat“ (religiöse Schule mit maronitischem Glauben, geleitet von Theologen) ein. Tägliche Gebete, Gottesdienste und die Lehre in Sprache und Naturwissenschaften stehen auf der Tagesordnung. Gibran berichtet, dass er diese Reise als notwendigen persönlichen Prozess sah, um die Wurzeln seiner Herkunft tiefer zu ergründen. Mit Büchern im Gepäck beschäftigt er sich auch auf seiner Reise mit Literatur, Mystik und Legenden.
Sein Studium in der Heimat bezeichnet er als „Schule der Weisheit“. Die Quintessenz seiner Reise klingt so:
„Die Erde ist meine Heimat und die Menschheit meine Familie.“
Rebellische Geister
Zurück in den USA verdient er sein Geld vorerst als Porträtzeichner und Autor für verschiedene Zeitschriften. Ab 1905 publiziert er seine ersten Bücher. Vorerst sind sie auf arabischer Sprache.
Khalil erlangt zwar an Ansehen, lernt bedeutende Leute der Szene kennen und etabliert sich als Künstler, verliert jedoch seine ältere Schwester, seinen Bruder und seine Mutter an den dunklen Schatten des Todes. Er bleibt mit seiner Schwester zurück.
So schrieb er:
„Die Bande, welche die Traurigkeit zwischen zwei Seelen knüpft, sind stärker als die Bande der Glückseligkeit. Und die Liebe, die mit Tränen besiegelt wird, bleibt ewig rein und schön.“
Der Mann, der mit einem Fuß im Orient und dem anderen im Okzident steht, publiziert 1908 das Werk „Rebellische Geister“, in dem er die anspruchsvollen Verhältnisse seiner Heimat niederschreibt. Seine Feder ist mit Kraft und Tinte gefüllt. Er hinterfragt und kritisiert scharfzüngig in den vier Kurzgeschichten des Buches die Imperialmacht des osmanischen Reichs und die Staats-und Kirchenvertreter.
„Von Anbeginn der Zeit bis in unsere Tage hinein verbündet sich die Klasse der
Herrschenden mit der Geistlichkeit gegen das Volk. Das ist eine chronische Krankheit, die die menschliche Gemeinschaft befallen hat und von der sie nur durch die Ausrottung der Unwissenheit befreit werden kann.“
Empörung und Wut! Khalil wird von der Gemeinschaft der Christen ausgeschlossen und durchlebt, was viele mutige Schriftsteller seiner Zeit durchlebten:
Seine Werke werden verboten und in seiner Anwesenheit öffentlich verbrannt. Die Flügel, die er der Sprache verleiht, verbrennen im lodernden Feuer.
Gibran kann seitdem immer weniger mit Tempeln, Kirchen und Moscheen anfangen. Er sieht diese als Orte, die Gläubige voneinander trennen.
„Der wahrhaft große Mensch ist der, der niemanden beherrscht und der von niemandem beherrscht wird.“
So schreibt Gibran später in „Der Prophet“ über das Beten:
„Nicht nur beten in der Not, ebenso in der Freude – in den Tagen des Wohlseins.
Beten heißt auch, das Ich in den „Äther“ ausdehnen, bedeutet, sich in den Weltraum begeben und den Menschen begegnen, die zu eben der gleichen Zeit beten. Das ist wie ein unsichtbarer Tempel.
Gott selbst legt uns Gebetsworte in den Mund. Gott kennt die menschlichen Bedürfnisse. Die Menschen brauchen Gott – und er gibt ihnen alles, denn er kennt sie.”
Gibran macht sich frei von religiösen und kulturellen Grenzen. Er beginnt, Dinge, Menschen und Zusammenhänge als Einheit zu betrachten.
Worte statt Waffe
Das Jahr 1911 bringt einen Krieg zwischen Italien und dem Osmanischen Reich. Gibran ist überzeugt, dass es hier nicht um keinen Krieg zwischen dem Islam und dem Christentum geht. Er ist bemüht, dem arabischen Volk eine gewaltfreie Reform nahezulegen. Die Menschen sollen keine politische oder religiöse Gegenkraft aufwenden, sondern die Gewalt verurteilen und mit Liebe handeln, um den Krieg zu beenden.
Dann bricht 1914 der erste Weltkrieg aus.
„Gott werde auch in diesem Kampf gegenwärtig sein, so wie er in allen Kämpfen der Erde gegenwärtig ist. Hier kämpft der Mächtige für das höhere Leben des Selbst! Gott ist um des höheren Lebens willen auch im Kampf gegenwärtig.“
In der Kriegszeit verfasst Gibran Artikel und bringt mit einer Hilfsaktion 750.000 US-Dollar ein, um Lebensmittel in den Libanon liefern zu können. Er sieht seine Worte als Waffe gegen den Krieg.
Bis zum Ende des Krieges durchlebt Gibran eine spirituelle Metamorphose und schreibt die Werke „Der Narr“ und „Der Prophet“. 1931 stirbt er.
Für Khalil Gibran gibt es nur eine Religion. Sie zeigt vielleicht verschiedene Wege und Weisen auf, ist im Kern jedoch ein und dieselbe; ähnlich einer Hand mit ihren fünf Fingern, die einander gleichen, aber auch alle unterschiedlich sind.
„Euer tägliches Leben ist euer Tempel und eure Religion.“
Menschheit als Einheit
„Der Prophet“ ist Gibrans Hauptwerk und wurde bis heute in mehr als einhundert Sprachen übersetzt. Es ist unabhängig von der Religionszugehörigkeit zu lesen und zugänglich auf nahezu jeder Sprache. Das Geheimnis des Buches, das sich über Gibrans Lebzeiten selbst geschrieben hat und als „Heilige Schrift der Literatur“ für Buchliebhaber*innen einen Platz in sämtlichen Regalen der Welt findet, ist einfach:
In seinen Weisheiten geht es um Themen, zu denen jede*r einen Bezug hat: Liebe und Angst, Geld und Arbeit, Schönheit und Güte, Essen und Sinnlichkeit. Gepaart mit Gibrans poetisch-melancholischer Sichtweise auf das Leben und den Erfahrungen, die er wandernd zwischen Orient und Okzident machen durfte, lehren seine Reflexionen ihn die wichtige Lektion:
Es sind die einfachen Dinge und der universelle Glaube, die eine Brücke zwischen Menschen bauen und nicht Religionen oder die Herkunft.
„Ich liebe Menschen ohne Unterscheidung und Bevorzugung; ich liebe sie als eine einzige Einheit, weil sie aus Gottes Geist kommen.“
Text: Gonca Temurcin
Titelbild: Shutterstock/Krishtai
Illustration: Shutterstock/Sarawut Itsaranuwut
Zeichnungen: Wikimedia Commons