Der Zugang zum Innersten

Zu Gast bei Dichterin Safiye Can

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Poetische Sprachbilder, die von Ferne, Nähe, Heimat und darüber hinaus handeln. Rhythmische Sprache, die von Liebe erzählt und dabei Gesellschaftskritik übt. Safiye Can dichtet auf Deutsch und verwendet Motive aus der türkischen, arabischen und persischen Literatur. In ihren Gedichten spannt sie den Bogen zwischen (Sehnsuchts-)Orten, Momentaufnahmen, Vergangenheit und Gegenwart. Ihre Lyrikbände „Diese Haltestelle hab ich mir gemacht“ und „Rose & Nachtigall. Liebesgedichte“ gehen in die 5. und 6. Auflage. Das ist für die Gattung Lyrik ein sensationeller Erfolg. 2016 wurde Safiye Can mit dem Else Lasker-Literaturpreis und dem AFM Preis für aufrechte Literatur ausgezeichnet. Am 27.2.2017 erschien Safiye Cans dritter Lyrikband „Kinder der verlorenen Gesellschaft“ im Wallstein Verlag.

Gedichte:

„Wir sind Moleküle an der Perlenkette der Natur
wir werden abfallen, andere
werden sich hinzu reihen.
Wir sind alle Teil unsrer Zeit, dieser Welt, unsrer Zeit
und die Summe aller Menschen
bildet die Flagge.
Andere Flaggen gibt es nicht
nun, drüben schon
da gibts auch sowas wie Bananenboxen
da gibts Briefbeschwerer, Herrendiener
und Kräuterstreusel am Tellerrand.“
(Aus: „Kinder der verlorenen Gesellschaft, Gedichte“. Wallstein Verlag, Göttingen 2017.)

„ […]

also hab ich mir diese Haltestelle gemacht

[…]

ich schuf sie aus einer Locke
kennen Sie Locken, die glatt werden
von alleine
ganz von alleine, und Locken die abfallen
strähnchenweise?
Allein aus Kummer ist das nur
das ist die Seele, das ist die Sehnsucht
das ist der Schmerz
diese Haltestelle hab ich mir gemacht
diese Wolke ist meine.“
(Aus: „Diese Haltestelle hab ich mir gemacht, Gedichte“. Größenwahn Verlag, Frankfurt 2016.)

„[…]

Unterwegs lese ich verstoßene Träume auf
und decke sie warm zu
in meinem Zuhause.
In meiner Hosentasche ein Uhrenschlüssel
ein Strick, eine Gebetskette
mal schaue ich mir das eine an
mal das andere.
Fern vom Land der Rosen und Nachtigallen
ändere ich die Anordnung von Klaviertasten
und setze sie neu zusammen.“

(Aus: „Rose & Nachtigall. Liebesgedichte“. Größenwahn Verlag, Frankfurt 2014.)

Du sagst «Lest Gedichte!». Warum ist Lyrik heute so wichtig?

Gedichte sind immer wichtig. Poesie vermenschlicht uns, öffnet Türen, Blickwinkel. Lyrik gibt uns auch das Gefühl verstanden zu werden, nicht alleine da zu stehen. Dafür brauchen wir aber auch den für uns richtigen Dichter. Nicht jeder Dichter berührt jedes Herz, nicht jedes Gedicht berührt jede Seele. Wir brauchen die Poesie, die Malerei und die Musik, um nicht abzuhärten, um in uns zu horchen. Ich finde, im 21. Jahrhundert, ist Lyrik umso nötiger, denn der Mensch wurde zur Arbeitsmaschine getrimmt. Umso dringender brauchen wir sie also, um den Zugang zu unserem Innersten zu bewahren. Denn geschieht das nicht, entwickeln sich empathielose Massen, die wie in Bautzen applaudierend vor brennenden Flüchtlingsunterkünften stehen.

War es eine bewusste Entscheidung in deutscher Sprache zu dichten?

Definitiv. Ich verliebte mich in einen Jungen, der Italienisch und Deutsch sprach. Ich konnte kein Italienisch, das Gedicht aber wollte zu ihm sprechen. So entstanden meine ersten deutschsprachigen Gedichte. Ich habe mir nach den ersten deutschsprachigen Anläufen gründlich überlegt, in welcher Sprache ich schreiben werde, und ich entschied mich bewusst für die deutsche Sprache. Ich wollte und will die Menschen in diesem Land erreichen. Das bedeutet eben auch zu allen Zweisprachigen zu sprechen. So viele verschiedene Nationen zeitgleich erreichen zu können ist großartig. Ich stellte mir auch folgende Frage: Ist dein Platz in der deutschsprachigen Lyrik oder in der türkischsprachigen? Die Stimme in mir wusste, sie ist in der deutschsprachigen Lyrik. Ich wusste, ich kann hier etwas bewegen. Der Dichter an sich gehört aber nie nur zu einem bestimmten Land. Wenn die Gedichte eine größere Leserschaft erreichen, werden sie in weitere Sprachen übersetzt. Und dennoch ist die Originalsprache des Gedichtes enorm wichtig; es geht schließlich um Klänge, um Rhythmen. Es ist nun einmal das Original, d.h. das Gedicht in der Originalsprache ist genau so, wie es der Autor wollte.

Wann hast du Deutsch gelernt?

Erst in der Grundschule. In der Familie wurde Türkisch und Tscherkessisch gesprochen. Mit mir leider nur Türkisch. Ich besuchte keinen Kindergarten, da die Arbeitszeiten meiner Eltern es nicht möglich machten. Genauer gesagt, bekam meine Mutter nicht die dafür nötigen zehn Minuten von ihrem damaligen Arbeitgeber, die meinen frühen Einstieg in meine Schreibsprache verhinderten. Je eher man eine Sprache erlernt, umso besser für den Autor und, natürlich, auch umso besser für den Leser. Meine Eltern sind in der Türkei geboren. Der Urgroßvater meiner Mutter kam im Zuge der Vertreibung durch das zaristische Russland als Säugling mit seiner Familie aus dem Kaukasus in die Türkei. Die Großeltern meines Vaters sind wiederum im Kaukasus geboren. Nach Deutschland kam zuerst mein Großvater als einer der ersten Gastarbeiter aus der Türkei. Die Gastarbeiter, woher auch immer, haben diesem Land Wichtiges hinterlassen, darunter auch das ihnen Wichtigste, ihre Kinder. Ich bin eines dieser Kinder. Und auch das war ein Grund mich für Deutsch als Schreibsprache zu entscheiden. Wir sind ihr Sprachrohr.

Du arbeitest jetzt selbst mit Jugendlichen. Welche Probleme und Potenziale siehst du bei ihnen?

Mehrsprachigkeit ist immer ein Luxus. Die Probleme der Jugendlichen mit „Migrationshintergrund“ sind oft dieselben, wie die ohne und zwar insbesondere dann, wenn etwas in der Familie, der Erziehung schief läuft. Der „vorlaute Rebell“ der Klasse ist mal ein deutsches, mal ein nicht deutsches Kind, der „Rassist“, der übertriebene „Vaterlandliebhaber“ der Klasse ebenso. Wir müssen alle gleich sanft anfassen. Es macht keinen Unterschied, woher sie stammen und welchen Namen sie tragen. Sie sind alle gleich. Es sind Kinder und Jugendliche. Sie alle will ich erreichen für mehr Verständnis und Liebe. Das geht bei mir über den Weg der Poesie. Diese Kinder und Jugendlichen werden unsere Zukunft, diese Welt mitgestalten. Es ist wichtig, dass man ihnen das Gefühl von Empathie vermittelt.

Was hältst du von der Förderung der Muttersprachen bei Kindern „mit Migrationshintergrund“, wie zum Beispiel eine bilinguale Kita?

Beim Thema Bilingualismus wird in Deutschland mit zweierlei Maß gemessen. Während bei den Migranten aus der Türkei und dem arabischen Raum die Zweitsprache Türkisch bzw. Arabisch als hinderlich für eine erfolgreiche Integration deklariert wird und man gleich von Parallelgesellschaften spricht, gilt es bei gutverdienenden Deutschen als en vogue ihre Kinder auf eine bilinguale Kita bzw. Schule zu schicken. In Deutschland ist es also nicht entscheidend, dass man bilingual aufwächst, sondern welche Zweitsprache man beherrscht. Handelt es sich bei der Zweitsprache um Englisch, Französisch dann gilt sie als Bereicherung für die Entwicklung des Kindes. Ist die Zweitsprache allerdings Türkisch, dann wird sie sehr schnell als problematisch abgestempelt. Diese Doppelmoral ist schwer nachzuvollziehen. Die Förderung der Muttersprache bei Migranten halte ich für sehr wichtig und betrachte sie als Chance für die Gesellschaft. Allerdings muss das von der Gesellschaft auch als solche angesehen werden.

Du arbeitest bei der Vereinigung türkischsprachiger Schriftsteller Europas und bist ehrenamtliche Mitarbeiterin von Amnesty International. Wie erlebst du die Situation von Journalisten, Oppositionellen und Literaten in der Türkei? Wie ist deine Position dazu?

Die Situation ist sowohl für Oppositionelle, Literaten und Journalisten als auch für den kritisch hinterfragenden Lehrer und Dozenten bis hin zum Schüler und Studenten mehr als unerträglich. Sie ist beschämend und eine Kriegserklärung an alle demokratischen Werte. Ich verurteile jegliche Form von staatlichen Repressionen gegenüber Andersdenkenden und regierungskritische Medien. Ich lehne jede Form von Nationalismus ab und hoffe, dass die türkische Bevölkerung beim Referendum über das Präsidialsystem ein deutliches Zeichen für die Demokratie setzen wird. Lyrik kann und sollte auch politisch sein, muss es aber nicht. Und dennoch wünsche ich mir von vielen Künstlern mehr Mut zur politischen Stimme.

Zur Person:

Geboren ist Safiye Can 1977 als Kind tscherkessischer Eltern in Offenbach am Main. Die studierte Philosophin publiziert dreisprachig, auf Deutsch, Türkisch und Englisch. Safiye Cans erste beiden Lyrikbände zogen „all das Interesse der deutschsprachigen Literaturszene auf sich.“ (International Journal Of Languages‘ Education and Teaching). „In ihrer Lyrik reflektiert die Autorin ihre eigene Existenzsituation in immer neuen und überraschenden Sprachbildern und Chiffren. Zugleich werden ihre Gedichte zu lyrischen Meditationen, in denen philosophisch die das (lyrische) Ich umgebenden Welt einer multikulturellen Gesellschaft vermessen wird.“, heißt es in der Urkunde des Else Lasker-Lyrikpreises. Neben der Lyrik ist Safiye Can auch Kuratorin der Heinrich-Böll-Stiftung, gibt Schreibwerkstätten an Schulen und ist als Übersetzerin tätig. 2017 ist die Autorin in ganz Deutschland auf Lesereise.

Credits
Text: Delia Friess
Fotos: Wolfgang Schmidt

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