Wir befinden uns in der Wohnung von Mehmet Akif Büyükatalay, Filmemacher und Student an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Bett, Regal, Schreibtisch, großer Flachbildfernseher, Bücher, Filme, Tonträger. Rainer Werner Fassbinder und Thomas Bernhard hängen an der Wand. Die große Fensterfront zeigt die sommerliche Abendsonne über Köln-Ehrenfeld.
Warum hast du dich für das Filmemachen entschieden?
Ich hatte keine Entscheidungsfreiheit, das war einfach Intuition. Alles hat mit einer großen Liebe für Filme begonnen. Meine Einstiegsdroge waren die Simpsons. Die höchste Kunstform der Menschheitsgeschichte. Die Serie ist für mich eine der wenigen Hochkulturen, die mir das Fernsehen vermittelt hat. Durch die einfache Codierung ist sie vielen Menschen zugänglich. Dahinter verbirgt sich jedoch viel mehr: Ständig werden zum Beispiel Filme zitiert. Ich habe dann die ganzen Filme herausgesucht und angeschaut. In der Schule habe ich auch an einem Filmwettbewerb teilgenommen und ihn gewonnen. Das hat mich ermutigt, mich mit dem Filmemachen auseinanderzusetzen. Ich habe mich nie gefragt, ob ich diesen Weg gehen soll, sondern vielmehr, ob ich mich traue, ihn zu gehen.
Was haben deine Filme als gemeinsamen Nenner?
Ich denke, alle meine Hauptfiguren sind auf der Suche nach ihrer Identität, nach einer identitätsstiftenden Rolle in der Gesellschaft. Sie suchen einen Ort, an dem sie sich wohlfühlen können. In Vor dem Tor des Ijtihad ist dieser Ort die Religion, in Auch Wenn Alle, Ich Nicht ist es die Welt der Kunst.
Ich behaupte: In mindestens zwei deiner Filme leben die Protagonisten in zwei Welten. Stimmst du dem zu?
Ja, das stimmt. In Auch Wenn Alle, Ich Nicht ist es auf der einen Seite das Ruhrgebiet, die Arbeiterklasse, auf der anderen Seite das semiintellektuelle Milieu. Die Hauptfigur ist ein Deutschtürke; ich hätte den Film aber auch mit einem Deutschen ohne Migrationshintergrund machen können. Ich würde nicht sagen, dass das eine türkische und eine deutsche Welt ist. Sowieso will ich mich nicht immer diesem Thema zuwenden, den einzelnen Nationalitäten dies und das zuschreiben, mich nur darauf konzentrieren. Aber Filmkunst speist sich nun mal viel aus der eigenen Vergangenheit, und ich komme aus der türkisch-islamischen Community in Hagen. Deshalb ist das natürlich immer wieder Thema in meinen Filmen.
In Auch Wenn Alle, Ich Nicht sagt der türkeistämmige Friseur zu dem ebenfalls türkeistämmigen Protagonisten: „Du wirst nur ein Künstler, wenn du auf dein Vaterland scheißt.“ Was meint er damit?
Das ist die paranoide Wahrnehmung der Deutschtürken oder generell der Muslime. Es herrscht eine Lügenpresse-Mentalität, was auch durch die unverhältnismäßige Fokussierung der Medien auf Schlagzeilenthemen wie Salafisten, Burka oder Terror verstärkt wird. Das sind Themen, die im Alltag eines gläubigen Muslims nicht im geringsten eine Rolle spielen. Es ist ein Ungleichgewicht da, aber bei vielen fehlt die Fähigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit Medien, keine Spur von Medienkompetenz.
Meiner Meinung nach existiert noch immer dieses „ihr“, also die Deutschen auf der einen, und das „wir“, also die Deutschtürken auf der anderen Seite. Deutschland hat es irgendwie noch nicht geschafft das zu durchbrechen. Mit diesem Problem werde ich mich sicherlich die nächsten Jahrzehnte beschäftigen müssen. Ich bin ein Medienkünstler und komme genau aus diesem Skepsis-Milieu. Die Vorwürfe aus dem Standardrepertoire des Reaktionären, jemand sei ein Nestbeschmutzer oder Vaterlandsverräter, höre ich jetzt schon täglich über digitale Medien oder ab und an auch analog. Das Erstarken des Nationalismus von beiden Seiten ist aber Anreiz und Motivation für meine Kunst.
Wir wollen mit meinem nächsten Spielfilm genau diese konträren Welten verbinden. Nicht nur den Film in Hagen drehen, sondern meine Familie, Freunde, echte Moscheegänger, einfach viele in den Film einbinden. Bis jetzt sind die kleineren Erfahrungen mit meinen „deutschen Freunden aus Köln“ im „türkisch-islamischen Hagen“ sehr motivierend und überaus positiv.
Worum geht es denn genau in deinem neuen Film?
Ich möchte nicht zu viel verraten. Es geht um einen Endzwanziger in einer westeuropäischen Großstadt, der seine neue Identität in der Religion gefunden hat. Ausgangsfragen für den Film waren „Warum hat Religion noch immer eine große Anziehungskraft?“ und „Was bedeutet es eigentlich, in einem säkularen, neoliberalen, postmodernen Staat religiös zu sein?“ Ich denke nämlich, es bedeutet, einige Opfer zu bringen. Aber es gibt auch viele Vorteile. Glaube ist wie eine Superheldenkraft.
Wie wichtig ist Sprache für dich?
Sehr wichtig. Ich beschäftige mich sehr viel mit der Entwicklung von Sprache in Deutschland, also Jugendsprache, Slang, Mischformen aus Türkisch und Deutsch, Arabisch und Deutsch. Diese Formen entstehen meiner Meinung nach aus Bequemlichkeit und auch, um sich von anderen abzugrenzen. Sprache dient der Authentizität der Figuren in meinen Filmen. Ich sammle Gesprächsfetzen in einem Notizheft und in einem Ordner auf meinem Rechner. Was ich übrigens auch sammle, sind beschriftete Papiere jeder Art, die ich auf der Straße finde. Aus Briefen, Einkaufs- und Neujahrs-to-do-Listen lerne ich viel über die Innenwelten von Menschen. Eine der Listen stammt zum Beispiel von einer depressiven Frau, die sich vornimmt, ihrem Typen die Meinung zu sagen und keine Orgasmen mehr vorzutäuschen.
Wenn du bestimmen könntest, wer sich deine Filme ansieht, wer wäre das?
Wir wollen mit dem neuen Film durch die Schulen ziehen. Außerdem gibt es einige bekannte Regisseure, denen ich gern meine Filme zeigen würde. Dazu gehören auf jeden Fall Nuri Bilge Ceylan, Pier Paolo Pasolini und Werner Herzog.
Warum willst du, dass diese Regisseure deine Filme anschauen?
Ich habe da so eine etwas größenwahnsinnige Vorstellung an die kunsthistorische Kette anzuschließen. Ich möchte das weiterführen, was sie begonnen oder auch schon weitergeführt haben. Vielleicht möchte ich auch, dass sie sich meine Filme angucken, damit sie noch leben.
Ich habe gestern gelesen, dass immer mehr amerikanische Serien auf Humor setzen, auch wenn das eigentliche Thema ein sehr ernstes ist. Deine Filme sind sehr ernst. Könntest du dir auch vorstellen, etwas Komisches zu produzieren?
Eher nicht. Ich stelle mir das sehr schwer vor. Da das Lachen die einzig messbare Form des Gelingens im Kinosaal ist, hätte ich Angst, dass keiner lacht.