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Gesellschaft & Geschichten

„Eine kurze, wunderschöne Emanzipationszeit“

Die 68er-Bewegung in der Türkei

Im vergangenen Jahr war es Luther, dieses Jahr ist es die 68er-Bewegung, die in den Medien diskutiert wird. Jubiläen sind ein guter Anlass, um historische Phänomene und ihre Auswirkungen auf unsere heutige Gesellschaft und die Welt, in der wir leben, zu betrachten. 

Die Berichte über die Student*innenbewegungen des Jahres 1968 beschränken sich jedoch meistens auf die Proteste in den USA und Deutschland. Gewaltige Bilder von Massendemonstrationen und jungen Menschen mit Blumen im Haar, Slogans wie „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“ und die Musik der Rolling Stones und Janis Joplin – das ist es, was die meisten von uns mit den 68ern verbinden. 

Die 68er-Bewegung war jedoch ein globales Phänomen. Nicht nur in den USA und Westdeutschland fanden sich große Menschenmengen zusammen, um gegen Kapitalismus, Krieg und überkommene (Bildungs-)Systeme zu demonstrieren. Auch in Mexiko, Japan, der Türkei und vielen anderen Ländern gab es Protestbewegungen. 

In Köln hat die Projektgruppe Türkei der Hans-Böckler-Stiftung im Jahr 2008 zum vierzigjährigen Jubiläum des Jahres 1968 eine Veranstaltung namens „68 à la Turka“ organisiert.

„Es war bei uns der gleiche Kampf wie in der Bundesrepublik“, erzählte der Journalist Ertugrul Kürkcü der taz,

„nur ihr wart auf der reicheren Seite des Globusses, und wir kämpften auf der ärmeren Seite.“

Kürkcü gehörte zu den Anführern der Student*innenbewegung in Istanbul.

Die türkische 68er-Bewegung hat es nicht in unsere Popkultur geschafft und man hört und liest wenig bis nichts darüber. Dabei ist der Werdegang der studentischen Protestbewegung in der Türkei hochinteressant.

Von der Ausrufung der Republik bis zum ersten Putsch 

Um die 68er-Bewegung in der Türkei zu verstehen, muss man einen Blick auf die frühere Geschichte des Landes werfen. Nach der Republikgründung 1923 wurde die Türkei von der republikanischen Volkspartei CHP regiert. Die Strukturen der von Atatürk gegründeten Partei waren denen des bürokratischen, elitären osmanischen Reiches noch sehr ähnlich. Ganze Bevölkerungsschichten der jungen Republik wurden von Seiten der Regierung vernachlässigt, so zum Beispiel die Bauernschicht, die damals noch den Großteil der Bevölkerung darstellte. 

Nach dem zweiten Weltkrieg kam die DP (Demokratische Partei) an die Macht und betrieb eine dem Westen gegenüber offenere Politik. Die Türkei erhielt militärische und finanzielle Hilfe von den USA, die dadurch versuchten, den Einflussbereich der Sowjetunion einzuschränken. 1952 trat die Türkei der NATO bei, unter der DP fanden wirtschaftsliberale und kapitalistische Entwicklungen statt. 

Mitte der fünfziger Jahre kam es zu einer Wirtschaftskrise. Die Inflation und die missliche Lage der Arbeiter- und Mittelklasse führten dazu, dass viele auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben vom Land in die Städte zogen. Die meisten von ihnen wurden enttäuscht und rutschten in soziales Elend ab, denn es fehlte an Arbeitsplätzen. 

Auf Proteste von Intellektuellen und der Opposition reagierte die Regierung autoritär und restriktiv.

Am 27. Mai 1960 kam es schließlich zum Militärputsch, die DP-Regierung wurde gestürzt und eine neue Verfassung verabschiedet. Diese garantierte Grundrechte wie die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, die Gewaltenteilung und soziale Rechte wie das Recht auf Arbeit. 

Die Entfaltung einer linken Bewegung

Damit war die Grundlage für die Entfaltung einer linken Bewegung geschaffen: Während vor dem Putsch von 1960 jegliche politisch linke Aktivität verboten und von Ordnungskräften verfolgt worden war, gab es nun die Möglichkeit, sich zu versammeln und alternative Systeme zu diskutieren. Sozialistische Texte wurden ins Türkische übersetzt, die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder stieg steil an und es wurden verschiedene linke Gruppierungen gegründet.

Die für die 68er-Bewegung wichtigsten Organisationen waren zum einen die NDR (Nationaldemokratische Revolution), die sich um die 1961 erstmals erschienene Zeitschrift YÖN („Die Richtung“) gruppierte, und die TİP (Türkische Arbeiterpartei).

Die NDR stand für einen „revolutionären Nationalismus“ ein und fungierte als Forum der Intellektuellen. Ihre Anhänger wollten durch radikale, putschartige Aktivitäten die ökonomische Abhängigkeit der Türkei überwinden.

Die TİP wurde 1961 von Gewerkschaftler*innen gegründet und stand für einen demokratischen Sozialismus ein. Zu ihren Forderungen zählten die Verstaatlichung von Großbetrieben, eine friedliche Außenpolitik, soziale Gerechtigkeit und eine Landreform. Im Gegensatz zur NDR wollten die Anhänger der TİP Veränderungen nicht durch einen Putsch, sondern durch parlamentarischen, demokratischen Kampf erreichen. 1965 zog die TİP mit fünfzehn Sitzen ins Parlament ein. Mit der späteren Radikalisierung der studentischen Bewegung verlor die TİP jedoch immer mehr an Einfluss.

Erste studentische Proteste 

In den Jahren 1964 und 1965 protestierten zahlreiche Student*innen gegen die Probleme im türkischen Bildungssystem. Diese Demonstrationen können als erste Anzeichen der Formierung einer türkischen 68er-Bewegung gesehen werden. Es ging dabei um die Erhöhung der Studienbeiträge, die ungleichen Bildungschancen und die überkommenen Methoden und Lehrinhalte an den Universitäten und Schulen. 1965 wurde der FKF (Föderation des Ideenklubs) gegründet, unter dem sich ca. 2500 Studentinnen und Studenten organisierten. Des Weiteren etablierten sich Debattier- und Ideenklubs, Cafés und lokale Gesellschaften, in denen kapitalismuskritische Inhalte diskutiert wurden. Aus dem ebenfalls 1965 gegründeten „Dev-Genç“, Abkürzung für „Devrimci Gençlik“ („Revolutionäre Jugend“), gingen in den 1970er Jahren fast alle radikallinken Gruppierungen hervor.

Anders als in vielen anderen Ländern hatte die Linke in der Türkei durch die Repressionen von staatlicher Seite lange kaum die Möglichkeit, sich zu entfalten. Die Zeit zwischen den beiden ersten Militärputschen 1960 und 1971 muss sich für linke Aktivisten also ganz besonders angefühlt haben. Die deutsch-türkische Autorin Emine Sevgi Özdamar beschrieb die damalige Zeit als eine „kurze, wunderschöne Emanzipationszeit“.

Von der Kritik des Bildungssystems zum Kampf gegen den Imperialismus

Im Mai 1968 pinselten Student*innen das Wort „Devrim“ (z. dt.: Revolution) an die Tribüne des Stadiums der Technischen Universität des Nahen Ostens. Bis heute ist der Schriftzug zu sehen. Credits: ODTÜ Devrim Stadyumu, CC BY-SA 4.0, Bilalokms via wikimedia

Sowohl durch die Auseinandersetzung mit sozialistischen Texten als auch durch die enttäuschten Erwartungen an radikale Veränderungen durch den Putsch von 1960 politisierte sich die Student*innenbewegung der Türkei. Sie übertrugen die universitären Probleme auf einen größeren gesellschaftlichen Kontext.

Als im Juni 1967 die 6. amerikanische Flotte in Istanbul eintraf, protestierten aufgebrachte Student*innen.

Sie bewarfen die amerikanischen Soldaten mit Eiern und nahmen ihnen ihre Mützen weg.

Die Demonstrationen richteten sich gegen den Imperialismus des Kalten Krieges und das überkommene türkische Bildungssystem. Im November desselben Jahres fand ein Protestzug gegen die Privatisierung von Schulen von Ankara nach Istanbul statt.

Im April 1986 wurde in Ankara die erste Universität besetzt, es folgten weitere Besetzungsaktionen auch in Istanbul. Die Bewegung trat nun radikaler auf, sie forderten nicht mehr nur Reformen, sondern Revolution. 

Massenproteste und deren Niederschlagung 

Vorrangig vertraten die Student*innen eine antiimperialistische, antiamerikanische Haltung. Sie forderten das Ende der türkischen Abhängigkeit, positionierten sich gegen die NATO, gegen die amerikanische Vorgehensweise im Vietnamkrieg. Gegen Krieg im Allgemeinen und für die Freiheit. Sie prangerten die Ausbeutung der unterentwickelten Länder durch die imperialistischen Staaten an, plädierten für eine Bildungsrevolution und die Autonomie der Universitäten. Die Ordnungskräfte gingen hart gegen die Demonstrationen vor. Bei einer Protestaktion im Sommer 1968 wurde der 25-Jährige Vedat Demircioğlu getötet. Dieses Trauma führte unweigerlich zu einer weiteren Radikalisierung der studentischen Bewegung. Je extremer jedoch die Proteste, desto extremer reagierten auch die Ordnungskräfte. Während der US-Botschafter Kommer an einer Universität in Ankara zu Besuch ist, zünden Student*innen sein Auto an. 

Der 16. Februar 1969 sollte als „kanlı Pazar“ (z. dt.: blutiger Sonntag) in die türkische Geschichte eingehen: Bei einer Massendemonstration kamen zwei weitere Linke durch den Angriff von Rechten um, zahlreiche Menschen wurden verletzt.

„Unsere führenden Leute sind umgebracht worden.“

Als es 1971 zu einem erneuten Militärputsch kam, wurden linke Organisationen, Gewerkschaften und Parteien verboten, zahlreiche ihrer Mitglieder verhaftet und zum Teil hingerichtet. Der Menschenrechtler Ragip Zarakolu beschrieb den Umgang mit der 68er-Bewegung in der Türkei gegenüber dem Berliner Tagesspiegel:

«Deutschland hat es geschafft, die 68er-Bewegung zu integrieren. Unsere führenden Leute sind umgebracht worden».

Mitte der Siebzigerjahre konnte die linke Bewegung sich zwar wieder aufstellen, aber spätestens mit dem Putsch von 1980 und der darauffolgenden Militärdiktatur war es damit vorbei. In zweieinhalb Jahren wurden 180.000 Menschen verhaftet und viele hingerichtet.

Viele Linke und Mitglieder der 68er-Bewegung gingen ins Exil, um diesem Schicksal zu entfliehen.

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