Mit Büchern Brücken bauen

Zu Gast bei der Mitbegünderin des Literaturfestival „Literatürk“ Semra Uzun-Önder

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In diesem Herbst fand zum elften Mal das renommierte türkisch-deutsche Literaturfestival „Literatürk“ im Ruhrgebiet statt. Das Festival hatte auch in diesem Jahr viel zu bieten: Lesungen bedeutender Schriftsteller, Diskussionen und Vorführungen. Wir waren neugierig, wer hinter diesem Festival steckt und haben uns auf den Weg nach Essen gemacht, um die Mitbegründerin Semra Uzun-Önder kennenzulernen.

Semra, stell dich bitte kurz vor.

Ich bin in Trabzon, einer türkischen Stadt am Schwarzen Meer geboren und mit fünf Jahren nach Deutschland gekommen. Wir sind eine klassische Arbeiterfamilie: Vater Bergmann, Mutter Hausfrau und vier Kinder. Für das Pädagogik-Studium bin ich aus meiner Heimatstadt Duisburg ins weit entfernte Essen gezogen. (lacht) Dort lebe ich heute noch gemeinsam mit meiner wunderbaren 17-jährigen Tochter.

Wie ging es nach dem Studium weiter?

Ich war lange Jahre als Pädagogin tätig. Unter anderen beim Jugendamt Essen im Bereich der politische Jugendbildung. Dort habe ich mit den Jugendlichen beispielsweise Fahrten ins Anne Frank Haus nach Amsterdam unternommen oder wir haben uns gemeinsam auf die Spur nach Stolpersteinen in Essen gemacht. Es war spannend zu sehen, wie sich die Jugendlichen den Themen Politik und Geschichte genähert haben und damit umgegangen sind.

Ab einem bestimmten Punkt haben mir die Aufgaben als Pädagogin aber nicht mehr gereicht, so dass ich eine zusätzliche Ausbildung zur Psychotherapeutin begonnen habe. Ich stehe nun kurz vor der Approbationsprüfung. Das bedeutet, dass jetzt eine elendige Lernphase für mich beginnt. Wenn alles gut geht, bin ich ab März Psychotherapeutin und kann mir endlich meinen Traum von einer eigenen Praxis erfüllen.

Diplomdesignerin (FH) Photography and Photodesign

Neben deinem Job arbeitest Du auch an anderen kulturellen Projekten. Was hat es mit der Fotoausstellung und dem Kochbuch auf sich?

Beide Projekte liegen schon eine Weile zurück. Fast schon so weit, dass sie mir kaum mehr wahr erscheinen. (lacht)

Die Fotoausstellung „Gesichter der Migration“ war mein erstes Projekt überhaupt. Ich habe während meines Studiums ein Praktikum im Kulturzentrum Grend gemacht. Dabei habe ich gemeinsam mit einem Fotografen diese Fotoausstellung organisiert. Wir haben Menschen mit Migrationshintergrund besucht und sie gebeten, uns ihre Lebensgeschichten zu erzählen. Diese Geschichten haben wir dann mit dem dazugehörigen Portrait des Erzählers ausgestellt. Es war eine sehr persönliche und authentische Arbeit.

Das Kochbuch hingegen war nicht meine Idee. Ich bekam das Angebot, das erste vegetarische Kochbuch mit original türkischen Rezepten zu schreiben. Ich fand diese Idee sehr spannend und hatte Lust etwas Neues zu machen. Die türkische Küche ist wirklich sehr vielfältig. Das liegt natürlich an den unterschiedlichen Ethnien, die dort gemeinsam gelebt haben und teilweise noch leben. So vielfältig und abwechslungsreich, dass man praktisch jeden Tag drei vegetarische Gänge zubereiten könnte. Das fand ich schon sehr beeindruckend, wenn man doch bedenkt, dass die türkische Küche sehr auf Döner und Fleisch reduziert wird. Das Buch wurde sogar mit zwei Preisen ausgezeichnet.

Beides waren Projekte, die mir große Freude bereitet und mich motoviert haben, auch mal neue Wege zu gehen.

Diplomdesignerin (FH) Photography and Photodesign

Neue Wege bist du auch Anfang 2000 gegangen, als du das mittlerweile renommierteste deutsch-türkische Literaturfestival „Literatürk“ gegründet hast. Wie kam es dazu?

Meine beste Freundin Filiz Doğan und ich saßen häufig in einem Café hier in Essen-Steele und haben über türkische Bücher gesprochen, die wir gerade lasen oder über kulturelle Veranstaltungen, die wir vor kurzem besucht hatten. Dabei ist uns aufgefallen, dass das kulturelle Angebot in Essen und Umgebung doch sehr begrenzt ist. Im Ruhrgebiet gab es keine Veranstaltungen für türkische Literatur. Das fanden wir sehr schade und haben uns über einen langen Zeitraum gefragt, warum denn keiner ein Festival für türkische Literatur auf die Beine stellt. Mit dieser Fragen haben wir uns ziemlich lange rumgeärgert und schließlich beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.

Wie seid ihr das Projekt dann angegangen?

Für uns beide war dieses Projekt ein ganz neues Feld. Wir erstellten ein Konzept mit der Grundidee, das Festival nicht an einen Ort zu binden. Dieser Idee folgen wir noch heute. Das heißt, unsere Autoren gehen nicht nur ins Theater oder in große Kinos, sondern wir veranstalten auch Lesungen in Cafés oder Bibliotheken. Ich habe unser Konzept Johannes Brackmann (Anm. der Redaktion: Geschäftsführer des Grend Kulturzentrums) vorgestellt. Er war begeistert von der Idee und bot das Grend sofort als Träger an. Und schon ging es los: Wir stellten Anträge, luden Autoren ein, suchten Veranstaltungsorte und hatten im Oktober 2005 das erste „Literatürk“-Festival auf die Beine gestellt. Mittlerweile organisiere ich das Festival gemeinsam mit meiner Schwester Fatma.

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Nach welchen Kriterien stellt ihr das Programm zusammen?

In den ersten Jahren haben wir geschaut, welche Schriftsteller wir spannend finden. Wer ist auf dem Markt? Wen kennen wir? Wen möchten wir präsentieren? Diese Fragen waren zu Beginn ausschlaggebend und sind es natürlich heute immer noch. Irgendwann jedoch haben wir uns überlegt, dass uns „deutsch-türkisch“ als Kriterium nicht ausreicht. Das Ruhrgebiet besteht nicht nur aus Deutsch-Türken. Seit einigen Jahren lassen wir diese Tatsache in unsere Festivalgestaltung einfließen. Wir haben begonnen, jedes Festival unter ein bestimmtes Motto zu setzen. Mit dabei waren bisher die Themen „Krimi“, „Menschenlandschaften“ oder „Zeit einzuschenken“ wie im vergangenen Jahr zum zehnjährigen Jubiläum. In diesem Jahr haben wir mit dem Thema »Menschenrechte« ein sehr universelles Thema ausgewählt, dass man gar nicht auf „deutsch“ oder „türkisch“ reduzieren kann. Unser Ziel für die kommenden Jahre ist es, das Festival durch ein bestimmtes Thema auch für andere Nationalitäten und Autoren zu öffnen. Diesen Ansatz finden wir sehr spannend. Wenn es um Liebe geht, wird beispielsweise ein spanischer Autor mit Sicherheit auch sehr viel und sehr schön dazu schreiben können.

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Wen erreicht ihr mit dem Festival?

Unsere Intention ist es, die türkische Literatur- und Kulturszene auch dem deutschen Publikum zugänglich zu machen. Darum sind alle Veranstaltungen zweisprachig. In diesem Jahr haben viele deutsche Besucher an den Veranstaltungen teilgenommen. Das zeigt uns, dass unsere Arbeit wahr- und angenommen wird. Die Lesungen dienen nicht nur der Unterhaltung, sondern jeder kann etwas Neues für sich mitnehmen. Mittlerweile spricht sich das Festival rum, so dass wir insbesondere in diesem Jahr ein sehr gemischtes Publikum hatten. Das gilt auch für die Altersstruktur der Besucher. Wir schaffen es, unterschiedliche Menschen zu begeistern und diese wiederum machen sich die Mühe, unsere Veranstaltungen zu besuchen. Wie haben Mauern aufgebrochen und Brücken der Verständigung und des kulturellen Austauschs gebaut. Das macht uns unheimlich stolz.

Es war sicherlich nicht einfach das Festival auf die Beine zu stellen. Was waren bisher die größten Schwierigkeiten, mit denen ihr zu kämpfen hattet?

Anfangs waren wir uns keiner Schwierigkeit bewusst. Die Welt stand uns sozusagen offen. Wir waren froh, dass wir einige Leute für unsere Idee begeistern konnten und dass es die ersten Geldgeber gab. Erst im Laufe der Jahre haben wir festgestellt, dass es gar nicht so einfach ist. Das Hauptproblem ist nach wie vor der finanzielle Aspekt. „Literatürk“ ist mittlerweile eine renommierte Veranstaltungsreihe, die jeder kennt und toll findet. Trotzdem möchte kaum jemand dafür in die Geldbörse greifen. Was uns wirklich weiterhelfen würde, wären feste Mittel, die wir nicht jedes Jahr aufs Neue beantragen müssen. Denn uns bangt jetzt schon wieder, ob wir das Programm für das kommende Jahr durchbekommen werden. Diese Prozedur wiederholt sich Jahr für Jahr. Das ist wirklich sehr anstrengend und zugleich frustrierend. Es wäre schön, wenn wir langfristiger planen und unser Hauptaugenmerk auf die Organisation des Festivals legen könnten.

Das diesjährige Festival ist gerade zu Ende gegangen. Magst du für uns ein Resümee ziehen und einen Blick in die Zukunft werfen?

Wir sind mit dem diesjährigen Festival sehr zufrieden. Die Resonanz des Publikums und der Presse war sehr positiv. Zudem waren die Veranstaltungen größtenteils ausverkauft. Voller Elan und Tatendrang sind wir bereits in der Planung für das kommende Jahr. Wie gesagt möchten wir das Festival in Zukunft weiter öffnen, indem wir es über Themenschwerpunkte laufen lassen, um eine breitere Masse zu erreichen. Zusätzlich gibt es Anfragen aus Stuttgart, Köln und Frankfurt für eine Zusammenarbeit. Gleichzeitig erreichen uns auch sehr kreative Ideen aus der Türkei. Diese Kooperationsmöglichkeiten werten wir gerade aus. Kurzum werden wir das Format mit zentralen Veranstaltungen im Ruhrgebiet beibehalten, aber zugleich ausweiten. Es ist schön zu sehen, dass unsere Arbeit auf Begeisterung stößt. Als Team stecken wir wirklich viel Energie, Freude und Zeit in das Festival. So viele Menschen zu erreichen und inspirierend für neue Ideen zu sein, macht uns wahnsinnig stolz. Wir freuen uns jetzt schon auf das 12. „Literatürk“ in 2016!

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Fotos: Katrin Kaiser

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