„Irgendwann geht’s zurück!“

Atillas Kolumne

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Als Kind auf gepackten Koffern zu sitzen und auf die Rückkehr in die Heimat seiner Eltern zu warten, ist kein Honigschlecken. Irgendwann wird das Gastland selbst zur Heimat – und die vermeintliche Heimat zum Urlaubsort. Schlimm ist das nicht. Schlimm ist nur die Ungewissheit.

Türkische Vokabeln

anne – Mutter
baba – Vater
oğul – Sohn
memleket – Heimat

Irgendwie haben es ja damals fast alle geglaubt, dass es für uns zurück geht in die memleket. Auch meine Eltern verarzteten ihr Heimweh regelmäßig mit dem Mantra:

„Irgendwann geht’s zurück, irgendwann geht’s zurück!“
„Äh, wann genau, baba?“, fragte ich hellhörig.
„Irgendwann, oğlum, irgendwann …“, kam dann immer als Antwort.

Bum! Von da an gab es ein undefiniertes Datum für eine undefinierte Rückreise in eine undefinierte Heimat. „Irgendwann“ bedeutete Anfang der 80er für unsere Familie: irgendwann in den 90ern. Das kam uns Kindern damals vor wie eine halbe Ewigkeit. Unsere Herzen schlugen nervös, wenn wir uns ausmalten, wie der Tag X sein würde. Dass sich jedoch X stetig nach hinten verschob, zeigte sich zunächst nur unterschwellig.

Irgendwann brach dann aber die ziemlich konkrete Erkenntnis über mich herein, dass baba und anne selbst gar keinen richtigen Plan hatten. Die Rückkehr ins Morgenland entpuppte sich als Fata Morgana in der germanischen Wüste. Als ich baba Mitte der 90er erneut fragte: „Und, baba? Fahren wir jetzt zurück in die memleket, so wie du es immer gesagt hast?“, zog er an seiner Ernte-23 und sein von den Nachtschichten müdes und zerfurchtes Gesicht verschwand im Grau des Zigarettenqualms. Ich hoffte noch auf eine Antwort, während er schweigend den Schwaden hinterherschaute, die genauso zur Ausstattung unserer Wohnküche gehörten wie die bunten Tapeten an den Wänden und die zwei Sofas am wackeligen Esstisch. Schall und Rauch – auf diese Frage sollte ich nie eine Antwort bekommen.

Kein Plan

Die Stille, die der Frage nach dem Tag X folgte, war für mich zum Sinnbild für das seelische Befinden einer ganzen Generation von Immigrantinnen und Immigranten geworden. Am liebsten hätte ich ganz laut geschrien, damit es alle hören; alle Hinzugezogenen, in ganz Deutschland, egal woher sie kamen, wo sie jetzt waren und morgen hinwollten: „Ihr seit hierhergekommen, habt aber überhaupt keinen Plan!“ Auch wenn ich eigentlich kein Recht hatte, jemandem etwas vorzuwerfen, war ich wütend. Nicht etwa, weil ich so unbedingt in die Türkei wollte, sondern weil wir dazu verdammt waren, in der Grundspannung der Ungewissheit zu leben. Einer Ungewissheit darüber, wo wir morgen sein würden.

Und so hangelten sich viele von Tag zu Tag und Schicht zu Schicht, lebten und schufteten vor sich hin, als wollten sie nur irgendwie die Zeit schnell hinter sich bringen. Manche kauften schnell noch den Benz und das Haus am Mittelmeer oder das Apartment in Tekirdağ, Istanbul oder Urfa, und so ganz nebenbei waren die Jahre ins Land gegangen. Und bei all dem Stress hatten einige teilweise oder ganz vergessen, sich an ihre neue Umgebung anzupassen. Tja, shit happens!

Und dann: Mit den ersten heißen Sonnenstrahlen setzte pünktlich der Verstand wieder aus und die Euphorie ein, und alle freuten sich wie Bolle auf den langersehnten Urlaub, natürlich in der memleket. Aber ich wollte nicht bloß zufällig in Duisburg – an einem für meine Eltern fremden Ort – geboren worden sein, Luftschlösser aus babas Zigarettenqualm bauen und einer romantischen Vorstellung von Heimat hinterherträumen, in die ich zurück wollen sollte. Ich wollte endlich irgendwo hingehören und endlich die Koffer auspacken.

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Deutschland ist auch schön

Ein bisschen enttäuscht war ich dann schon, dass aus dem Dauerurlaub in der paradiesischen Türkei doch nichts wurde; am türkis-blauen Meer, bei den Kühen und Schafen, Ziegen und Katzen, im Dorf meiner gütigen Tanten und lustigen Onkels, die uns jeden Sommer mit feucht-warmen Blicken empfingen, wo die Sonne nie untergehen wollte und die Menschen viel lachten – auch trotz schlechter Zähne. Wo man herzlich mit Kindern war und Hunde nicht unbedingt besser behandelte – also anders als ich es von hierher manchmal gewohnt war, wo es für Gina, Waldi und Lucky teilweise mehr Akzeptanz gibt als für Emma, Lukas und Marie – Can, Ebru und Ayla mal außen vor gelassen.

Wir wohnten also weiter in der Ottostraße in Duisburg – ihr wisst schon: Bronxloh – während baba weiter im Stahlwerk malochte und anne in der Wohnküche an ihrer Kochkunst feilte. Nicht alles war optimal, doch irgendwie war es gut, wie es war – außer vielleicht das Klo, das nur vom Hausflur her zugänglich war. Aber ich kannte es nicht anders. Das. War. Meine. Heimat; das Spartanische, die undichten Fenster, sogar der holländische Käsehändler, der uns jeden Morgen pünktlich um halb sechs mit seinem Diesel-Bulli den Schlaf zerhackte. Ich fand einfach: Deutschland ist auch schön. Wenn auch etwas kälter … vom Wetter her, natürlich.

Allah’a emanet. (dt.: Gott beschütze)

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