Im 20. Jahrhundert endete der europäische Kolonialismus nicht mit der Auflösung der Kolonien, sondern fand andere Wege, seine rassistische Ideologie in der Phase des Postkolonialismus zu verbreiten.
Der Ruf nach Dekolonisation im Allgemeinen und der Abbau von rassistischem Wissen im Besonderen wird seit Jahren wieder lauter. Doch Dekolonisierung rüttelt auch am Kern der europäischen Identität.
„Es ist vor allem das erlernte, alltäglich-unhinterfragte Wissen, das uns oft eine verzerrte Wahrnehmung von Geschichte und Gegenwart wiedergibt.“
Mythos Abendland
Deshalb ist es wichtig, das Erlernte kritisch zu hinterfragen und manchmal auch wieder zu entlernen. Wie zum Beispiel den Mythos des „Abendlandes“. Die Bezeichnung „Abendland“ wurde vor allem seit dem Sommer 2015 als Kampfbegriff der (Neu-) Rechten und Konservativen populär. Die sogenannten „abendländischen Werte“ dienten zur Legitimation einer harten Integrations- und Migrationspolitik, die unter anderem den schutzsuchenden Menschen die Einreise nach Deutschland verwehren sollte.
Die Abgrenzungsstrategie erfolgt mit der vermeintlich kulturellen Unterscheidung zwischen „Abendland“ und sogenanntem „Morgenland“. Mit jenen Unterscheidungen wurden wieder jahrhundertealte Vorurteile und Stereotypen in unseren Köpfen reaktiviert. Die schlummerten sehr wahrscheinlich schon davor dort, wurden jedoch mit dem Gebrauch wieder wirkmächtiger.
Das zu Grunde liegende rassistische Argument funktioniert sehr einfach – mit dem Gebrauch und der Inanspruchnahme der „abendländischen Werte“ werden bestimmte Assoziationen wie Aufklärung, Philosophie, Liberalismus (kurz: Zivilisation) verbunden. Im Gegensatz dazu stellen die „morgenländischen Werte“ als logische Abgrenzung genau das Gegenteil dar: nicht-zivilisiert (oder um das alte Wort zu gebrauchen: barbarisch).
In diesen Dichotomien, also „Abendland“ vs. „Morgenland“, operieren viele Rassismen. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass das Argument der „abendländischen Werte“ am meisten Resonanz erfuhr, als Menschen aus Westasien, eher bekannt unter der Bezeichnung „Naher und Mittlerer Osten“, nach Europa flohen.
Erinnern und Verändern
Doch was passiert, wenn der Mythos „Abendland“ sich als eine große Illusion erweist? Das wäre für viele Menschen, die sich damit rühmen, ziemlich blöd. Zum Beispiel ist Europa bzw. Griechenland als Ursprungsort der antiken Philosophie ein wichtiger Teil des Mythos „Abendland“. Alle späteren Denker (leider waren es bis ins 20. Jhd. nur Männer) seit dem Mittelalter bis heute rekurrieren auf und schöpfen aus der reichen Ideenvielfalt von damals.
Dafür steht beispielhaft der Satz des berühmten Philosophen Heraklit (520-460 v.Chr.): „Panta rhei“ – „Alles fließt“ oder in gewandelter Form „Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss.“ Heraklit drückte damit aus, dass alles Sein, und damit auch wir Menschen, einem ständigen Werden und Wandel unterliegen. Nichts bleibt, alles verändert sich stetig.
Dieser Idee würden heute viele zustimmen. Heraklit gehört zu den Gründungsvätern der Philosophie und lebte im ionischen Ephesos.
Doch… Moment mal… Ephesos liegt in der heutigen Türkei. Was für ein Zufall. Als ein weiterer Begründer der antiken Philosophie gilt Thales (624-548 v.Chr.). Bekannt wurde er durch sein mathematisches Können (z.B. „Satz des Thales“) und sein Forschen nach dem Ursprung des Seins.
Er hielt Wasser für den Urstoff aller Dinge und soll als erster aufgrund seiner astronomischen Kenntnisse eine Sonnenfinsternis vorhergesagt haben. Thales lebte in Milet, weshalb er den Namen Thales von Milet erhielt.
Milet ist eine antike Hafenstadt an der Westküste Kleinasiens in der heutigen Türkei. Noch so ein Zufall. Später entwickelte Anaximander (610-546 v. Chr.) die Lehren seines Philosophenvaters Thales weiter. Er gilt ebenfalls als bedeutender Astronom und Astrophysiker und entwickelt als Erster ein physikalisches Erklärungsmodell zur Entstehung und Entwicklung der Welt.
Der Begriff Kosmos geht auf ihn zurück und er zeichnete damals die erste geographische Karte mit den bereits bekannten Land-Meer-Verteilungen. Er wirkte, wie sein Philosophenlehrer Thales, in Milet. Genauso wie Anaximenes (585-528 v. Chr.), der Schüler des Anaximander. Er knüpfte an die bereits bekannten Theorien an und vervollständigte die Philosophie des Anaximander.
Alle vier Philosophen gehören zu einer größeren Gruppe einer bedeutenden Philosophieströmung, den sogenannten „Vorsokratikern“ (also jene, die noch vor Sokrates gewirkt haben). Oder wie sie in der Antike bezeichnet wurden, die „ersten Philosophen“. Die Vorsokratiker gründeten die Disziplinen der modernen Naturwissenschaften und schufen philosophische Modelle, die später noch vielfach rezipiert wurden.
Sie wendeten sich von den alten Mythen und Göttern ab und versuchten das Dasein rationalistisch und wissenschaftlich zu erklären. Der Ursprungs- und Wirkungsort der „westlichen Philosophie“ entspricht damit der heutigen Türkei. Die „abendländische Philosophie“ etablierte sich in einem Gebiet, das wir heute weniger als „Abendland“ betrachten. Was für ein komischer Zufall.
Eurozentrismus und weiße Vorherrschaft
Unsere Vorstellungen von antiken Philosophen sind durch die Geschichts- und Ethikbücher sehr einheitlich geformt. Meistens denken wir an ältere Männer mit längeren Bärten. Dass wir uns diese Männer, wie Sokrates, Platon oder eben Heraklit, dabei weiß vorstellen, fällt uns erst beim kritischen Nachreflektieren auf. Dies hat zwei wichtige Gründe.
Der erste Grund ist, dass die erhaltenen antiken Skulpturen jener Epochen uns heute als graue oder weiße Figuren überliefert sind. Die Bilder in unseren Köpfen beziehen sich auf die grauweißen Zeugen jener Zeit. Doch waren diese Skulpturen zu ihrer Entstehungszeit nicht weiß, sondern nachgewiesenermaßen sehr bunt. Nach mehreren Jahrhunderten sind heute kaum mehr Farben sichtbar, was uns zum zweiten Grund führt. Ein Geschichtsverständnis, das Europa oder das sogenannte „Abendland“ mit Weiß-Sein gleichsetzt.
Es bedurfte vieler Jahrhunderte, vor allem die Epoche der Aufklärung war darin sehr erfolgreich, um die europäische Geschichte als eine weiße Geschichte zu konstruieren. Das ist auch einer der Gründe, warum sich Europa und Deutschland aktuell mit dem Thema Rassismus so schwertun. Die ganze europäische Geschichte wird systematisch aus einer weißen, vermeintlich zivilisatorischen Perspektive in Schulbüchern oder an Universitäten gelehrt. Da bleibt sehr vieles unsichtbar und wiederholt sich daher ständig.
Zum Beispiel das Thema der rassistischen Ausgrenzung in Form des Fremdmachens (Othering) von Menschen, die eben nicht weiß sind. Das passiert nach wie vor täglich. Doch wenn wir den oben genannten „Zufällen“ trauen und die geographischen Anfänge der Philosophie in der Türkei liegen, entsprachen auch diese Menschen sicher nicht den „weißen Maßstäben“. Damit ist Europa bzw. Deutschland auf eine lange Philosophiegeschichte stolz, deren Beginn Menschen einleiteten, die eher wie meine Freunde Devrim, Umut oder eben wie ich aussahen.
„Es bedurfte vieler Jahrhunderte, vor allem die Epoche der Aufklärung war darin sehr erfolgreich, um die europäische Geschichte als eine weiße Geschichte zu konstruieren.“