Mein osmanisches Erbe: Istanbul

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East meets East

Ich bin mit einer amerikanischen Mutter und einem deutschen Vater in verschiedenen Ländern der Erde aufgewachsen, vorrangig jedoch in Westeuropa und Nordamerika, und hielt mich für unheimlich weltoffen und kosmopolitisch. Bis ich für die Arbeit nach Istanbul zog. Ich arbeitete am Goethe-Institut und betreute dort ein großes EU-Projekt. Dafür tourten wir quer durch die Türkei und brachten verschiedene europäische Künstler für Lesungen, Konzerte und Ausstellungen in vierundzwanzig Städte Anatoliens. Mein Mann und ich wohnten zuerst auf der europäischen Seite Istanbuls, dann zogen wir nach Kadıköy, genauer gesagt nach Moda, dem vielleicht schönsten Viertel der Stadt.

Gegenüber unserer Wohnung lag „unser“ Bäcker, ein paar Häuser weiter gab es einen kleinen Supermarkt und einen Friseursalon, wo sich mein Mann gerne vom alten Barbier rasieren lies. Wir liebten unser Viertel mit den schönen Straßenzügen. Am Wochenende schlenderten wir vorbei an alten Holzhäusern, Studentencafés, Antiquariaten, Kirchen und Synagogen. Es gab einen Fischmarkt, den alten Fähranleger, sogar ein marxistisches Café mit leckerer Hausmannskost. Wir gaben den Straßenhunden Namen wie Ronaldo und Zeytin. Vor allem aber hatten wir Ahmet, der in unserer Straße zusammen mit seiner Frau ein kleines Restaurant betrieb. Als wir unsere Wohnung in der Moda Caddesi zum ersten Mal anschauten, landeten wir danach zufällig bei ihm. „Liebe geht durch den Magen“, rief Ahmet uns auf Deutsch entgegen. Er riet uns, in dem Viertel zu bleiben und es war die beste Entscheidung, die wir treffen konnten.

Von diesem Tage an gingen wir beinahe täglich bei ihm essen. Immer spät abends nach der Arbeit, wenn wir fix und fertig waren, ließen wir den Stress auf der anderen Seite des Bosporus und kehrten bei Ahmet ein. Er brachte uns dann die köstlichsten Vorspeisen, Salate, Hauptgerichte, Nachtische und Tee. Immer wenn wir nach der Rechnung fragten, sagte er nach kurzer Überlegung „Ähm … seven“. Sieben Lira! Das waren damals ungefähr 3,50 Euro. Das ging über Monate so. Wir versuchten ihm zu erklären, dass man so keinen Laden betreiben kann, und zahlten entgegen seiner lauten Proteste einen angemessenen Betrag. Ahmets Restaurant wurde so etwas wie unser zweites Zuhause. Wir verbrachten mit ihm und seiner Frau sogar Silvester, das er hartnäckig „Christmas“ nannte. Aber das soll nicht meine Geschichte sein, sondern die von Günter.

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Günter ist mein Schwiegervater. Er kommt aus Leipzig und konnte die Hälfte seines Lebens nicht das Land verlassen. Meistens fuhr die Familie an die Ostsee, oder mal nach Tschechien. Als die Mauer fiel, ging es mit dem Auto nach Norditalien. Später flog Günter sogar für ein Wochenende nach Paris. Günter ist ein sehr organisierter Mensch. Seine Alltagsabläufe zwischen Arbeit und Schrebergarten, sind genau durchgetaktet. Wir hatten Günter irgendwie überredet, nach Istanbul zu kommen, einer gelinde gesagt nicht sehr geordneten Stadt. Wir zerbrachen uns den Kopf, planten ein Programm für ihn und seine Lebensgefährtin und baten eine Freundin, die beiden durch die Stadt zu führen, während wir im Büro saßen. Würde Günter die Stadt hassen und uns verfluchen? Der Dreck, der Lärm, der Verkehr! Und überall fremde Menschen. Stattdessen hat Günter die Stadt heiß und innig geliebt. Geliebt! Er lief beseelt durch die Straßen, setzte sich abends auf ein Bier ins Männercafé, wo er kurzerhand per Handschlag begrüßt wurde. Er erzählte uns wo es am Anleger die besten Fischbrötchen gibt und dass wir Istanbul nicht kennen würden, wenn wir nicht die Festung Rumeli Hisarı mit ihrem herrlichen Ausblick über den Bosporus, besucht hätten.

Eines Abends holte er uns von der Fähre ab. Dort stehen oft Blumenverkäuferinnen, die „bir milyon“ – eine Million, also ein Lira pro Blume – rufen. Wir liefen zum Tor hinaus und dort stand Günter mitten im Getümmel und rief uns über beide Ohren grinsend „bir milyon! bir milyon!“ entgegen. So heimisch fühlte er sich dort. Irgendwann erwarteten wir fast, ihn mit den anderen Männern Sonnenblumenkerne kauend und die Glieder seiner Gebetskette zählend, auf einer Mauer sitzend zu finden. Am Ende seines Urlaubes verkündete er mit leuchtenden Augen, sich ein Haus in Istanbul kaufen zu wollen, sollte er eines Tages im Lotto gewinnen. Zum Abschied gingen wir mit Günter bei Ahmet essen. Er hatte mittlerweile das Lokal gewechselt. Es gab nun einen riesigen Ocakbaşı Grill und viel mehr Platz. Ahmet bereitete den besten Fisch für uns zu und tischte allerfeinste Köstlichkeiten auf. Rakı und Efes flossen, die Musik wurde stetig lauter und irgendwann sprang Ahmet auf und brachte Günter einen ordentlichen, türkischen Männertanz bei. Am Ende des Abends landete Günter in der Küche und rauchte mit Ahmet und seinen Mitarbeitern eine Nargile – Pfeife. Günter! Eine Shisha! Sein vergnügtes Lachen dabei werde ich niemals vergessen. Günter bekam zum Abschied von einer Freundin eine kleine Nargile geschenkt. Die steht nun zuhause bei ihm in Leipzig-Stötteritz in der Schrankwand und wer weiß, ob er sie nicht ab und zu mal abends raucht …

Auch ich habe in der Türkei viel gelernt und viel erlebt. Habe Städte wie Trabzon, Kars, Urfa und Antakya gesehen, wurde in Istanbul übers Ohr gehauen, von einem Taxifahrer bespuckt und um meine Kaution betrogen. Mir blieb fast das Herz stehen, als bei uns ein Handwerker aus dem Fenster stieg, um die Dachrinne zu reparieren, während ein Kollege ihn dabei am Gürtel festhielt. Doch die zwei Jahre in Istanbul haben mich für mein weiteres Leben geprägt und mir wunderbare Freundschaften geschenkt. Durch die Herzlichkeit und Gastfreundschaft der Menschen dort, habe ich gelernt, Freunde und Bekannte so oft es geht auf einen Kaffee oder ein Essen einzuladen, und egal wo ich auf der Welt bin, ob in einem Kiosk in London oder einem Taxi in Berlin, immer habe ich großartige Gespräche über meine Zeit in der Türkei.

Vielen Dank

… liebe Marion Schnelle, für die hochamüsante Geschichte aus Istanbul. Marion pendelt als freie Autorin, Redakteurin und Übersetzerin zwischen London und Berlin. Von 2007 bis 2010 koordinierte sie für das Goethe-Institut Istanbul das Yollarda Literaturprojekt. Die fabelhafte Bebilderung stammt  von Rikk Nerlig, seines Zeichens freier Grafiker und Illustrator. Tausend Dank! Ihr habt auch eine tolle Story die in den deutsch-türkischen Kontext passt? Schreibt sie mir an: roma@renk-magazin.de.

Credits
Text: Marion Schnelle
Illustration: Rikk Nerlig

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