Kadıköy – Zuhause soll so wie hier sein

Eine Ode an die letzte Oase Istanbuls

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“Burası gibi olsun.”(dt. es soll wie hier sein) sagt Oğuz. Wir sitzen auf den Steinen der Moda Sahil und seit meinen letzten Nächten in Hamburg, der anderen Hafenstadt, sehe ich das erste Mal wieder Sternenbilder. Er trinkt Bier, das erste von vielen. Ich esse von seiner Schachtel Pralinen. Er hat mir die Plastiktüte zum draufsetzten angeboten. „Altın kirlenmez.” (dt. dann wird dein Hintern nicht dreckig) wir wissen beide, dass auch seine Schwestern seit der Kindheit zu hören bekommen haben, dass Mädchen nicht auf kalten Steinen sitzen sollen. Die Sonne hatte die Steine aber den ganzen Tag schon für mich aufgewärmt.

Vor uns angelt ein Mann mit Lampe am Kopf. „Bu saatte balık mı tutulur?“ (dt. Um diese Uhrzeit fängt man Fische?) frage ich, „Balık soğuk su da tutulur,“ (dt. Fische fängt man im kalten Wasser) erklärt er mir.

Oğuz will nach Deutschland, wie so viele. „Herkes gergin.“ (dt. Alle sind angespannt) Der Anspruchshaltung der Regierung lässt sich hier in Kadıköy noch gut standhalten. Aber Kadıköy, auf der asiatischen Seite Istanbuls, ist eine Oase in der sich nur wenige verschanzen können. „Aber es soll wie hier sein, lebendig, entspannt, frei.“ Hier hat er Arbeit in einer Werbeagentur mit Aufstiegschancen, im Westen ist er nur ein dunkler Einwanderer von vielen, der die Sprache nicht richtig spricht und sich doch irgendwie anders kleidet.

Hier in Kadıköy wo das Barış Manço Museum und das Nazım Hikmet Kulturzentrum stehen, Studenten, Bars, Künstler, Gutsituierte, Touristen und linksorientierte aufeinander treffen, kann ich auch meinen BH mal durch das Shirt blitzen lassen, und meine Beine in Shorts zeigen.

Es wird trotzdem geguckt jeden Tag, wenn ich in den engen und überfüllten Gassen an den meyhaneler oder an der rıhtım entlang laufe. Aber wenn ich hier den Mund aufmache, weiß ich, meiner Stimme schließen sich noch weitere an. Und die Stimme im Kopf, die ihnen stumm entgegen ruft: „Gewöhnt euch an meinen Körper.“ Vor ein paar Nächten aber war ich alleine, als mir Halbwüchsige aus dem überfüllten Auto heraus „orospu“(dt. Schlampe) zugerufen hatten. Ich wollte antworten. Ich hab’s geschluckt. Meine Angst hatte mich korrigiert. Die sind nicht von hier, sondern aus den Provinzen irgendwo, die keiner meint, wenn von Istanbul die Rede ist.

Morgen ist Wahl. Die Wagen der verschiedenen Parteien umkreisen die Straßen mit Lautsprechern und Parteihymnen, an der rıhtım tummeln sich die Stände und die HDP fordert täglich zum halay auf. Simit, Su 1 Lira und die Fähren kommen um auf der Bosporus-Überfahrt mit seiner Aussicht etwas Idylle zu bieten.

Neben den Moscheen finde ich hier Kirchen, die ihre Türen in den kalabalık (dt.: überfüllten) Gegenden verschlossen halten müssen.

Vor ein paar Wochen erst wurde vor der griechisch orthodoxen Kirche in der Yasa Cadessi Müll abgeladen. „Warum ist hier immer zu?“ fragte ich den Pastor noch einige Tage zuvor bei einem Besuch. „Buralara gelen herkes senin gibi efendi değil.“ (dt. Es ist nicht jeder so anständig so wie du.) Ein paar Straßen weiter, im nachbarschaftlichem Moda hat die Kapelle aber immer auf. An der sahıl plant die Stadt eine Moschee, denn dort säßen alle nur um zu trinken. Bier ist hier aber eine Lebenseinstellung, ein Ausdruck, Zugehörigkeit, funktionaler Alkoholismus. Denn Istanbul fordert viel von seinen Bürgern. „Kafamı rahatlatmak zorundayım.“ (dt. Ich muss den Kopf etwas frei kriegen.) Instant Entspannung, Oğuz hatte wieder einen stressigen Tag.

„Wie hast du abgenommen?“ frage ich Oğuz während ich die Walnuss Creme Praline auf der Zunge zergehen lasse. „Drogen. Eine Zeit lang hat mir das richtig Spaß gemacht.“ „Ah,“ antworte ich, „ich glaube, ich werde eher versuchen weniger zu essen.“

Neben uns die Moda Kayikhane, die Konzertbar direkt am Wasser, wo wir uns kennen gelernt hatten bei einem Jehan Barbur Konzert. Sie hatte sich wohl gefühlt unter Gleichgesinnten und mit Kommentaren zwischen ihren Liebesliedern die Restriktionen so vieler Künstler angeprangert.

Kadıköy, das sind ganze Hauswände, die sich der Geschichten der Graffiti Künstler gewidmet haben. Überall die Wandgemälde unserer Zeit, stencils und Aufschriften die erzählen, was die Türkei schon immer bewegt hat: Liebe, das Volk, Rechte, Sehnsucht. In unserer Sprache steckt viel Poesie, die sich nicht von falschen Zungen verderben lassen möchte.

Hier werden die meisten privaten Theaterbühnen geführt, mit Selbstzensur, denn man weiß wie man navigieren muss.

Kunst gehört hier immer noch den Freidenkern, den voranschreitenden. Es ist das Zuhause von vermeintlich Grenzenlosen.

Die Mieten steigen und meist sind es in die Jahre gekommene Gebäude, die den stets vorausgesagten Erdbeben nur schwerlich standhalten würden.

Wir sind aufgestanden von den Steinen und der Kulisse am Meer. Jetzt gehen wir von Bar zu Bar, ins Eskici wo jeder die Schätze vergangener türkischer Popkultur voller Inbrunst mitschmettert. In der nächsten sind zwei Frauen-Pärchen ineinander verschlungen und an den Lippen verschmolzen. Ich muss länger hinschauen, das hatte ich beides hier noch nicht gesehen, das öffentliche Knutschen und die Homosexualität so frei gelebt. Aber wieder versteckt in Mitten von gleichgesinnten. Oğuz merkt meine Blicke. Ich nippe am Soda, er am Bier. „Willst du noch ’ne Praline?“

Text: Su Akar

Bilder: Barış Kerim Cesur

Der Istanbuler Barış Kerim Cesur ist Theaterschauspieler und Dokumentarfilmer. In seinem Foto-Projekt „Reflektieren durch das Leben“ will er den Alltag der Menschen in Istanbul abbilden und führt die Bürde wie auch die Poesie des Alltags in seinen Bildern zusammen.

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