Ralf J. Diemb fotografiert seit den Achtzigern. Er lebt in Ettlingen / Wilhelmshöhe und gründete 1983 mit Bildhauern, Malern und Schriftstellern die Ateliergemeinschaft Wilhelmshöhe – zwei Jahre später den auf der Wilhelmshöhe in Ettlingen ansässigen Kunstverein. Seit seiner Pensionierung im Jahr 2007 konnte er sich wieder auf die Fotografie konzentrieren. Mit seinem Fotografenfreund Sadık Üçok begleitet er Menschen in Form von sozialdokumentarischer Fotografie in der Türkei.
Ralf, welche Verbindung hast du zur Türkei?
Seit 2012 verbindet mich eine Freundschaft mit dem türkischen Karikaturisten und Fotografen Sadık Üçok, mit dem ich mich regelmäßig in Istanbul treffe. Wir realisierten bereits vier Ausstellungen in Deutschland.
Wann ist die Fotoserie “Hayat“ entstanden und in welchem Kontext wurde sie bisher präsentiert?
Das Projekt entstand im Jahre 2012, als ich Sadık erstmals in Istanbul besuchte, nachdem ich ihn über ein soziales Netzwerk kennen gelernt hatte. Wir einigten uns schnell, das Leben auf den Straßen Istanbuls zu beobachten und sozialdokumentarisch festzuhalten. Sadık ist seit den 1970er Jahren als Streetfotograf in Istanbul unterwegs. Unsere Aufnahmen wurden bisher in diesen vier Ausstellungen in Deutschland gezeigt, wobei jede Ausstellung natürlich neben einer Auswahl der bereits vorhandenen Bilder auch durch neue Bilder ergänzt wurde.
Hayat ist Türkisch und bedeutet Leben. Welche Leben begleitest du mit deiner Kamera?
Ausgehend von der Tatsache, dass die alten Stadtteile Istanbuls im Verschwinden begriffen sind, die alten Holzhäuser fast alle schon den Baggern zum Opfer gefallen sind und durch sterile Architektur ersetzt wurden, haben wir begonnen, das Leben und die Lebensumstände der Menschen in diesen Stadtteilen zu beobachten und in Bildern einzufangen. Ara Güler sagte mal: „Die Zeit mag Städte in Staub verwandeln, aber menschliche Dramen werden für Jahrhunderte lebendig sein.“.
Was hältst du von Nostalgie?
Ich bin ein Freund von allem Nostalgischen und liebe es, wenn Traditionen gelebt und bewahrt werden. Vor einer Woche fotografierten Sadık und ich in Safranbolu, ein UNESCO Weltkulturerbe in der Türkei, in den Werkstätten der Handwerker. Wir trafen Schuhmacher, Eisenschmiede, Silberschmiede und Schreiner, deren Werkstätten sich abenteuerlich baufällig am Rande einer Schlucht, wie hingeklebt, befanden. Ich fühlte mich um hundert Jahre zurückversetzt.
Wie findest du Zugang zu Menschen, die du fotografieren möchtest? Sprichst du Türkisch?
Straßenfotografie lebt zunächst von der Spontanität. Da halte ich mich an Henri Cartier Bresson, der sagte: ”Wenn du nicht fragst, bekommst du ein gutes Bild, wenn du fragst, musst du eventuell ein gutes Bild löschen.” In der Zwischenzeit habe ich mir eine Menge türkischer Vokabeln angeeignet, ebenso einige wichtige kurze Sätze. Das hilft mir in schwierigen Situationen weiter, besonders, wenn ich gezielt ein Porträt machen möchte. Bisher habe ich damit Erfolg gehabt.
Wieso hast du deine Reihe “Hayat” in Schwarz/Weiß fotografiert? Das Leben hat doch so viele verschiedene Farben.
Die Welt ist bunt, aber Schwarz/Weiß entspricht meiner Fantasie! Der Blick und die Konzentration auf das Wesentliche machen Schwarz/Weiß Fotos für mich aus. Wenn ich mir alte Filme wie Casablanca, Don Camillo, Verdammt in alle Ewigkeit oder Der dritte Mann anschaue, kann ich mir eine Neuproduktion in Farbe, welche ebenso ausdrucksstark daherkommt, nicht vorstellen.
In welchen Stadtteilen in Istanbul hast du im Rahmen von “Hayat“ gearbeitet?
Sadık und ich sind vor allem durch die alten Stadtteile Balat, Fener, Samatya und Kadırga gezogen. Wir haben uns aber auch stundenlang an der Galatabrücke und auf der Istiklal Straße in Beyoğlu herumgetrieben.
Was macht die Stadtteile, in denen du fotografiertest so besonders?
In diesen Stadtteilen ist das Leben der Menschen noch authentisch traditionell – ich befinde mich außerdem abseits der gängigen Touristenrouten. Ich treffe also auf Arbeits- und Lebensformen, die im Verschwinden begriffen sind.
Ist Gentrifizierung ein Thema, mit dem du dich mental oder fotografisch befasst hast?
Zwangsläufig spielt dieser Aspekt auch eine Rolle, wenn ich sehe, wie sich die alten Stadtteile seit 2012 verändert haben: die alten Holzhäuser verschwinden aus dem Stadtbild, ganze Stadtteile wie Tarlabaşı, Suleymaniye oder Teile von Fatih werden entmietet und fallen einer rasant und rücksichtslos vorangetriebenen Modernisierung zum Opfer.
Was hast du erlebt, während du Hayat fotografiert hast?
Ich habe bewusst erlebt, wie durch eine rigorose und gefühllose Städteplanung eine Stadt ihr Flair und ihren unverwechselbaren Charme verliert. Märkte wie die Fischmärkte in Karaköy und Kumkapı mussten einem Parkplatz beziehungsweise dem Metrobau weichen. Seit einem Jahr gibt es beispielsweise neue Schiffe, die vom asiatischen Teil der Stadt zum europäischen Teil fahren, die allerdings aussehen wie schwimmende Hotels oder riesige Badewannen und wie Fremdkörper übers Wasser schippern. Der Gezipark, die einzige grüne Fläche im Stadtzentrum, soll nach dem Willen der Stadtverwaltung und des Präsidenten durch einen überdimensionalen Neubau ersetzt werden. Diesen Wandel zu einer mehr und mehr gesichtslosen Hochhausmetropole habe ich bereits vor Jahren in Singapur erlebt, als man das dortige Chinatown dem Erdboden gleich machte.
Credits
Interview: Darwin Stapel mit Ralf J. Diemb
Fotografien: Ralf J. Diemb