Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. – So heißt es im Grundgesetz in Artikel 3, Absatz 3, aber wie sieht es tatsächlich in der Realität aus?
Bildungsgerechtigkeit – eine Frage der Definition?
Die meisten Bildungspolitikerinnen und -politiker schreiben sich Chancengerechtigkeit auf die Fahne. Unklar ist nur, was sie darunter verstehen, denn die Vorstellungen von Bildungsgerechtigkeit sind auch in unserer Gesellschaft unterschiedlich. Vereinfacht gesagt, prägen drei Gerechtigkeitsvorstellungen die heutige Bildungslandschaft – Jedem..
- .. nach Rang und Stand (Ungleicher Zugang zu qualifizierten schulischen Bildung, in Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status des Elternhauses. Eine gemeinsame Beschulung findet nicht statt.
- .. das Gleiche (auch: Gießkannenprinzip z.B. durch Trennung nach der 4. oder 6. Klasse, um eine homogene Lerngruppen zu schaffen)
- .. das individuell Erforderliche: (auch: Ungleiches, ungleich behandeln – Heterogene Lerngruppen lernen gemeinsam, dabei kommen differenzierte Lernangebote zur individuellen Förderung zum Zug – Ziel ist die optimale Förderung, unabhängig von sozioökonomischen Faktoren.)
Jedem nach Rang und Stand?
Das klingt nach einer längst überholten und überwundenen Gerechtigkeitsvorstellung des Kaiserreiches. Jedoch zeigen Leistungsvergleichsuntersuchungen auch heutzutage – ein Jahrhundert nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, den faktisch großen Einfluss der Vorstellung Bildungschancen “nach Rang und Stand” zu verteilen. Studienergebnisse zeigen, dass dieser Zusammenhang in Deutschland im internationalen Vergleich weiterhin stark ausgeprägt ist:
Beispielsweise zeigt die PISA-Studie 2018, dass mit einer erhöhten sozioökonomischen Stellung der Eltern (um eine Standardabweichung erhöht), die Lesekompetenz der Kinder um 40 Punkte steigt – damit handelt es sich um eine signifikante Abweichung zum OECD Durchschnitt, der bei 31 Punkten liegt.
Während die Leistungsunterschiede in der Grundschule noch nicht gravierend sind – unterschätzen Lehrkräfte aber vermehrt die Leistungsfähigkeit der Kinder und vergeben seltener Gymnasialempfehlungem – Folgen davon können verminderte Motivation und Selbstwirksamkeitsempfinden sein. Forschende der UDE haben in einer veröffentlichten Studie* herausgefunden, dass angehende Lehrkräfte Rom*nja tatsächlich bei den Bildungsempfehlungen benachteiligen.
„Wir konnten feststellen, dass fiktive männliche Schüler mit Roma-Hintergrund bei gleichem Leistungsprofil eine schlechtere Empfehlung für die weiterführende Schule erhalten als türkischstämmige oder Schülern ohne Migrationsgeschichte“, erklärt Dr. Sauro Civitillo
Auch der nationale Bildungsbericht 2022 bestätigt den starken Zusammenhang des Bildungserfolgs in Deutschland vom sozioökonomischen Status des Elternhauses. Folglich haben Kinder und Jugendliche mit gering qualifizierten Eltern aus einem niedrigen sozioökonomischen Status weniger Chancen auf einen erfolgreichen Bildungsverlauf. Eine mehrfache Benachteiligung von Kindern aus sozial schwächeren Familien lässt sich somit empirisch belegen. Aufgrund ihrer Sozialisationsbedingungen erzielen sie schlechtere Schulleistungen, erhalten auch bei gleichen Testleistungen häufiger schlechtere Beurteilungen und gehen seltener auf höhere Schularten.
Bildungsgerechtigkeit ist trotz Fortschritten noch ein entferntes Ziel – Aber was wären Maßnahmen, die zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen könnten?
Vereinfacht dargestellt → Weg von der Vorstellung “Jedem das Gleiche” hin zu “Jedem das individuell erforderliche” – aber wie?
“Ein differenziertes, individuelles Lernangebot stellt an die einzelnen Lehrerinnen und Lehrern hohe Anforderungen. Die damit verbundenen pädagogischen, fachlichen und fachdidaktischen Fragen der Unterrichtsgestaltung sollten daher gemeinsam im Kollegium gelöst werden. Hinzukommen müssen dafür angemessene schulstrukturelle Rahmenbedingungen und für die pädagogische Praxis geeignete diagnostische Verfahren, um sekundäre Herkunftseffekte der Leistungsbewertung und der Schullaufbahnempfehlungen zu reduzieren. Und nicht zuletzt sind dafür zusätzliche personelle wie sächliche Ressourcen erforderlich, um zum Beispiel multiprofessionelle Teams bilden zu können.” Werner Klein, Experte für Bildungsfragen.
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