Anfang der 60er kamen die ersten türkeistämmigen Gastarbeiter*innen nach Deutschland, um endlich Arbeit und einen besseren Lohn zu finden. Mit im Gepäck hatten sie viele Hoffnungen und Träume. Die Bundesrepublik Deutschland verkörperte für sie damals das Ideal von Frieden, Wohlstand und Politischer Freiheit. Einige hatten schon in der Türkei eine Familie gegründet, kamen jedoch zunächst alleine nach Deutschland. Durch die spätere Reglung des Familiennachzugs folgten ihnen ihre Kinder, Ehepartner*innen und weitere Familienangehörige nach. In diesem Artikel möchte ich daher den Fokus insbesondere auf 1. und mittlerweile 4.-5. Gastarbeitergeneration in Deutschland legen. Welche Träume und Hoffnungen hatte die 1. Generation im Vergleich zur Jetzigen? Hat sich in den Vorstellungen und Idealen des beispielsweise sozialen und gesellschaftlichen Aufstiegs etwas getan bzw. verändert? Traut sich die jetzige Generation gemäß dem Motto „Dream Big in Germany“ mehr zu? Oder herrscht noch immer in den Köpfen vieler Menschen die Vorstellung, dass Ali den Dönerladen seines Vaters übernehmen und Gül nach der Eheschließung das traute Heim hüten wird? Um diese Fragen beantworten zu können möchte ich die damaligen Chancen und Entfaltungsmöglichkeiten der 1. Gastarbeitergeneration mit denen der 3. bis 5. Generation sowie deren jetzigen Bedingungen gegenüberstellen und analysieren. Träumen wir heute größer und selbstbewusster in Deutschland? Wenn ja oder nein, warum?
It was all a dream…
Das Jahr 1961 markiert den Beginn eines wichtigen Ereignisses in der Geschichte der türkeistämmigen Gastarbeiter*innen in Deutschland. 2021 jährt sich das Anwerbeabkommen Deutschlands mit der Türkei, denn genau vor sechzig Jahren kamen die ersten Gastarbeiter*innen mit dem Flugzeug und der Bahn nach Deutschland. Sie kamen aus einem politisch unruhigen und wirtschaftlich geschwächten Land, denn am 27. Mai 1960 hatte in der Türkei ein Militärputsch stattgefunden und der damalige türkische Präsident Celal Bayar wurde durch den Soldaten Cemal Gürsel abgelöst. Bis zum 25.10.1961 stand die türkische Regierung unter einem militärischen Regime/einer Militär-Junta. Auch die darauffolgenden Jahre wurde das Land durch die strenge Militärpräsens geschwächt, da es immer wieder zu innenpolitischen Unruhen der ideologisch verfeindeten Lager kam.
Im Jahr 1961 als die ersten Gastarbeiter*innen nach Deutschland kamen, war Konrad Adenauer amtierender Bundeskanzler. Das Jahr markierte auch ein einschneidendes Ereignis der deutschen Geschichte, der Bau der Berliner Mauer begann und damit einhergehende Teilung Deutschlands. Paradoxerweise verkündete der frisch gewählte US-Präsident John F. Kennedy zum selben Zeitpunkt, dass durch seine New Frontier-Politik u.a. die Rassentrennung in den USA beendet werden sollte. Wirtschaftlich ging es Deutschland sehr gut. Die D-Mark wurde aufgewertet und war gegenüber allen Weltwährungen und Gold knapp 5% teurer. Dieser ökonomische Aufschwung brachte schon 1955 in gewissen Teilbereichen der deutschen Wirtschaft den Mangel an Arbeitskräften mit sich, insbesondere in der Landwirtschaft und im Bergbau. So standen im Jahr 1960 153.161 Arbeitslosen 487.746 offene Stellen gegenüber. Gewerkschaften erstarkten und kämpften u.a. für hohe Löhne. Sie erzielten zwischen 1950 und 1960 eine Reallohnsteigerung von 67 %. Um diesen Arbeitskräftemangel und künftige Lohnforderungen entgegenzuwirken, wurde die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte unter dem Kabinette Adenauer III beschlossen. Am 31. Oktober 1961 wurde auf Drängen der türkischen Regierung das Anwerbeabkommen zwischen der BRD und der Türkei unterzeichnet.
Der Beginn einer Reise in die „neue“ Heimat
Um nachvollziehen zu können, warum ausgerechnet die türkische Regierung auf ein Anwerbeabkommen mit Deutschland drängte, ist eine historische Kontextualisierung notwendig. Während des Kalten Krieges (1947-1991) war die Türkei geostrategisch ein wichtiges NATO-Mitglied an der Südostflanke zur damaligen Sowjetunion. Das Land litt jahrzehntelang unter niedrigem Wirtschaftswachstum und einer damit einhergehenden hohen Arbeitslosigkeit, die u.a. durch ein schnelles Bevölkerungswachstum verursacht wurde. Anfang der 60er hatte die Türkei knapp 28 Millionen Einwohner und ab dem Jahre 1962 stieg die gesamte Arbeitslosenzahl von 985.000 bis 1967 1.440.000 an. Damit ging auch eine starke Staatsverschuldung und hohe Inflation einher. Folglich hatte die Türkei ein großes Interesse daran einen Teil ihrer Bürger*innen als Gastarbeiter*innen befristet ins Ausland zu entsenden. Außerdem sollten durch Geldüberweisungen der Gastarbeiter*innen in die Heimat sowohl das Handelsbilanzdefizit der Türkei im Handel mit Deutschland als auch die Überschüsse in der Übertragsbilanz kompensiert werden, um die türkische Leistungsbilanz der BDR gegenüber ausgleichen zu können. Eine wirtschaftlich und politisch stabile Türkei war insbesondere für die NATO-Staaten von großer Relevanz.
Bis es jedoch zu einer staatlich regulierten Zuwanderung von Arbeitskräften aus der Türkei kam, gingen unzählige Verhandlungen und Befürchtungen seitens der BRD voraus. Man hatte große Bedenken, dass Konflikte zwischen türkeistämmigen Gastarbeiter*innen und Einheimischen wegen religiösen sowie kulturellen Unterschieden entstehen könnten.
Doch mit dem Mauerbau im August 1961 wurde der bis dahin anhaltenden Zustrom von Arbeitskräften aus der DDR abrupt gestoppt und knapp zwei Monate später gab die Bundesregierung dem Drängen der türkischen Regierung nach und unterzeichnete das Anwerbeabkommen. Angekommen in Deutschland, spielten die türkeistämmigen Gastarbeiter*innen in der Gesamtzuwanderung zunächst eine eher marginale Rolle. Dies änderte sich nach der Wirtschaftskrise 1967. In der Stahl- und Automobilindustrie benötigte man sehr viele ungelernte Arbeiter*innen, um u.a. Einsparungen zu erzielen und teure Rationalisierungen zu vermeiden.
In der ersten Fassung des Anwerbeabkommens war die Aufenthaltserlaubnis für die türkeistämmigen Gastarbeiter*innen zunächst auf 2 Jahre beschränkt. Man pochte auf ein Rotationsprinzip, welches besagte, dass die Gastarbeiter*innen zwingend in die Türkei zurückkehren müssten und durch neue Arbeiter*innen ersetzt werden sollten. Auch ein Familiennachzug war zunächst nicht vorgesehen. Auf Dauer stellte man in der Praxis jedoch fest, dass dieses Rotationsprinzip zum Scheitern verurteilt war, denn viele deutsche Unternehmen wollten einmal angelernte Arbeitskräfte nicht nach zwei Jahren gehen lassen und sprachen sich gegen eine Zurückführung aus. Folglich wurde das Rotationsprinzip 1964 außer Kraft gesetzt und das Verbot des Familiennachzugs aufgehoben. Erst 1973 im Zuge der Ölkrise wurde ein Anwerbestopp beschlossen. Zu diesem Zeitpunkt lebten, 12 Jahre nach dem ersten Anwerbeabkommen, rund 900.000 Türk*innen in der BRD, von denen knapp eine halbe Million wieder in die Heimat zurückkehrten. Sie wurden vor die Wahl gestellt, entweder dauerhaft in die Türkei zurückzukehren oder aber in Deutschland zu bleiben. Die meisten von ihnen entschieden sich zu bleiben.
Dementsprechend plante man auch keine Deutschsprachkurse zu organisieren, was rückblickend als eines der schwerwiegenden Versäumnisse seitens der BRD gilt. Mangelnde Sprach- und Bildungskompetenzen der 1. Gastarbeitergeneration hatten sowohl negative als auch folgenreiche soziale Benachteiligungserfahrungen für die darauffolgenden Generationen zur Folge. Das Beherrschen der Deutschen Sprache und damit der Zugang zu fairen Bildungs- und Aufstiegschancen ist der Schlüssel einer „gelungenen“ Integration in die Deutsche Gesellschaft. Dieses Versäumnis lastet noch immer auf den Schultern der nachfolgenden Generationen. Selbstverständlich war man froh und dankbar, dass man in Deutschland arbeiten und mit dem physisch hart verdienten Geld seine Familie (gerade die in der türkischen Heimat) ernähren konnte. Zwar heiligte der Zweck die Mittel, aber man konnte die tief im Inneren erfahrene sprachliche und soziale Ausgrenzung nicht ungeschehen machen. Dieser Schmerz über die Ausgrenzung und die Hilflosigkeit gegenüber undemokratisch beschlossenen Maßnahmen wie die Befristung der Arbeitsdauer, fehlender Berufsausbildungsangebote und Deutsch-Sprachkursen ließen die 1. und 2. Gastarbeitergeneration verstummen.
Die türkeistämmigen/ausländischen Gastarbeiter*innen sind die Glücksschmiede des „deutschen Wirtschaftswunders“ und für den Aufbau der Sozialsysteme mitverantwortlich
Laut dem Migrationsforscher Friedrich Heckmann ermöglichte die Zuwanderung von ausländischen Gastarbeiter*innen zwischen 1960 und 1970 knapp 2,3 Millionen Deutschen den sozialen Aufstieg von Arbeiter- in Angestelltenpositionen. Außerdem haben die ausländischen Arbeitnehmer*innen die Rentenversicherung der Deutschen nachweislich subventioniert, da es sonst ohne ihre Zuwanderung die Rentenversicherungsbeiträge 1971 massiv erhöht worden wären.
Auf Grundlage der Forschungsdaten haben insbesondere die türkeistämmigen Gastarbeiter*innen maßgeblich zum „deutschen Wirtschaftswunder“ beigetragen und sind ebenso für den Aufbau der Sozialsysteme mitverantwortlich. Ihr physisch stark belastender Arbeitseinsatz für Deutschland wurde, an türkischen Wirtschaftsverhältnissen gemessen, mit finanziell ausreichenden Mitteln entlohnt.
Wie groß träumst du in Deutschland?
Die 1. und 2. Gastarbeitergeneration haben den damaligen Umständen entsprechend in Deutschland nach nichts mehr als nach finanzieller Sicherheit, Vollbeschäftigung und gesellschaftspolitischem Frieden von ihrem „Gastland“ verlangt. Wir von renk haben nachgefragt, was sich die 1. und 2. Gastarbeitergeneration im Vergleich mit der heutige Generation in Deutschland wünscht oder erwartet. Um dies herauszufinden, haben wir eine Umfrage via des Instagram-Accounts vom renk Magazin gestartet. Im Folgenden werden die Umfrageergebnisse über die Träume und Wünsche der 1.-5. Gastarbeitergeneration zusammengefasst und analysiert. Auch wenn die Angaben nicht ganz repräsentativ sind, geben sie doch Einblicke in die Vorstellungen und Hoffnungen der Menschen, deren Lebensgeschichte mit Deutschland eng verwoben ist. Zuerst wollte wir wissen, zu welcher Gastarbeitergeneration die renk Magazin Leser*innen gehören und welchen höchsten Bildungsabschluss sie haben. Die Umfrageteilnehmer*innen gaben an, dass sie mehrheitlich der 3. & 4. Gastarbeitergeneration angehören und die meisten von ihnen den Bachelor-Abschluss haben.
Die 1. Gastarbeitergeneration wird auch von Vielen als die Generation der Großeltern bezeichnet, die sich insbesondere bessere Lebensbedingungen für ihre Kinder, d. h. eine gute Berufsausbildung wünschten. Priorität hatten die Ziele wie die eigene Familie in der Türkei zu versorgen, in absehbarer Zeit in die Heimat zurückzukehren, um mit dem Ersparten in der Türkei ein Stück Land zu erwerben. Obwohl man in der BRD davon ausging, dass die Gastarbeiter*innen wieder in die Türkei zurückkehren würden und man damit die Entscheidung begründete, keine Deutschsprachkurse anbieten zu müssen, waren doch die Wünsche und Hoffnungen da, die deutsche Sprache lernen zu wollen. Für sie war es die Grundvorrausetzung für Selbständigkeit sowie gesellschaftlicher Teilhabe in Deutschland.
Als die 2. Gastarbeitergeneration werden die Eltern der 3. Generation verstanden. Diese wiederum träumten von einem einfacheren Leben ohne finanzielle Sorgen, die den Wunsch vom Eigenheim und nach besseren Bildungsperspektiven wie ein Medizin- oder Jurastudium für ihre Kinder ermöglichen sollte. Dabei wollte sie die gegebenen beruflichen Möglichkeiten nutzen und eine Verbeamtung als Arzt*in, Anwalt*in und Lehrer*in zu erreichen. Das sind eigentlich die Träume der deutschen Mittelschicht, die eher durch die Zugehörigkeit einer Bildungsschicht realisierbar waren. Demnach träumte die 2. Gastarbeitergeneration bereits von einem sozialen Aufstieg durch Bildung für ihre Kinder. Außerdem erwarteten sie von der deutschen Gesellschaft mehr Akzeptanz, Toleranz und Chancengleichheit. Intrinsisch motiviert war diese Gastarbeitergeneration von der Aufopferung ihrer eigenen (Groß-)Eltern – man arbeitete hart, um sie Stolz zu machen und ihnen mit dem sozialen (Bildungs-)Aufstieg etwas Wertvolles zurückzugeben. Im Fokus ihrer Träume war das harte Hinarbeiten für die nachkommende Generation, bei dem man den Grundstein für ein Studium und damit eine akademische Laufbahn der eigenen Kinder legen wollte. Man wollte hart arbeiten, um Teil der deutschen Gesellschaft zu werden und gleichzeitig Stolz auf seine türkeistämmigen Wurzeln sein.
Die 3.-4. Gastarbeitergeneration sind die Kinder, die eine Berufsausbildung und/oder ein erfolgreiches Hochschulstudium in Deutschland abgeschlossen haben. Die aus der einstigen Arbeiterschicht stammenden 1. Gastarbeitergeneration hat sich in dieser Generation eine (akademische) Bildungsschicht etabliert, die u.a. die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, für Deutschland im Staatsdienst tätig sind (Polizist*innen, Lehrer*innen, Anwälte, Ärzt*innen, Richter*innen usw.). Interessanterweise möchte die 3.-4. Gastarbeitergeneration als Deutsche angesehen werden. Sie haben die gleichen Träume und Wünsche (Flexibilität in der Berufsauswahl, eine Promotion anstreben und mit dem Dr.-Titel in die Wissenschaft gehen) wie die Deutschen. Ein Paradebeispiel und Hoffnungsträger sind die türkeistämmigen (Forschungs-)Mediziner* Özlem Tekin und Uğur Şahin Außerdem möchte sich diese Generation viel stärker in der Politik engagieren – Wer weiß, vielleicht stellt diese oder die nächste Generation den/die nächste Bundeskanzler*in.
Rückblickend hat es die 1.-4./5. Gastarbeitergeneration ziemlich weit gebracht. Vom einfachen Gastarbeiter* ohne Sprachkenntnisse bis hin zum weltweit ausgezeichneten Spitzenmediziner*innen.
Herzlichen Dank an die 1. und 2. Gastarbeitergeneration, ohne eure Ausdauer, eure Geduld und Aufopferung wäre die jetzige Generation nicht da, wo sie heute steht. Ihr habt den Grundstein für noch größere Träume in Deutschland gelegt. Damit wir noch größer träumen können seid ihr verstummt. Im jetzigen Deutschland werden eure Nachfahren lauter nach ihren Träumen und Wünschen schreien und sich viel stärker dafür engagieren. Schließlich beherrschen wir die deutsche Sprache größernteils besser als die türkische Muttersprache – die deutschen Sprachkenntnisse sind sogar mit „Auszeichnung abgeschlossenen“ Universitätsabschlüssen zertifiziert. Aus diesem Grund „Dream Big in Germany“ klopfe euch als „Proud Gastarbeiterkind“ wohlverdient auf eure Schulter. Wir haben bis zum Kanzleramt noch einen langen Weg vor uns.
An die 1. und 2. Gastarbeitergeneration: Tesekkürler ve elleriniz dert görmesin.
Illustrationen: Yasmin Anilgan