Beethoven und Goethe zu Gast im Harem

Abdülmecid Efendi, Prinz und Künstler gleichermaßen

Efendis Frauenbild war revolutionär.
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„Beethoven im Harem“ oder „Goethe im Harem“? – Hört sich erst einmal absurd an. Was suchen die beiden in einem Harem?

Ihr könnt beruhigt sein, denn sowohl Beethoven als auch Goethe waren, soweit wir wissen, nie persönlich im Harem. Ein türkisch-osmanischer Maler setzte die wichtigen Persönlichkeiten der deutschen Kunst jedoch auf Ölgemälden genau in diesen Zusammenhang des „Harems“, was allgemein auch das Haus des Sultans bezeichnet, das privat, abgeschlossen und verborgen war.

Efendis Frauenbild war revolutionär.
Efendis Frauenbild war revolutionär.

Abdülmecid Efendi (auch Abdülmecid II./ 1868-1944) war königlicher Prinz der osmanischen Dynastie und der letzte osmanische Kalif. Mit seiner Tätigkeit als Maler, Komponist und Intellektueller trug er maßgeblich zur Entwicklung der türkischen Kunst seiner Zeit bei und war zudem vielleicht der modernste Kalif der späten osmanischen Ära. Trotz seiner kulturellen Bedeutung geriet Abdülmecid Efendi mehr als ein halbes Jahrhundert lang nahezu in Vergessenheit und sein künstlerisches Schaffen degradierte zur Randerscheinung.

Pinsel statt Zepter

Als Mitglied der osmanischen Familie widmete er sich, zur Kritik mancher, mehr der Kunst als der Politik. Sein Vater Abdülaziz (1830-1876), der 32. Sultan des Osmanischen Reiches, bewunderte die Kunst, Musik, Literatur und das Theater, sowohl des Ostens als auch des Westens. Zudem besuchte Abdülaziz als erster osmanischer Sultan Europa, traf Persönlichkeiten wie Napoleon und Königin Victoria und galt damit als sehr zukunftsgewandt zu dieser Zeit.

Seinen Vater verlor Abdülmecid mit acht Jahren. Er erinnerte sich daran, mit ihm nach Paris gereist zu sein, wo sie Museen und kulturelle Veranstaltungen besuchten.

„Die Kunst ist lange bildend, ehe sie schön ist.“ – Goethe

Diese frühe Erfahrung prägte ihn für den Rest seines Leben und als einen der bedeutendsten türkischen Maler des frühen 20. Jahrhunderts. Als osmanischer Thronfolger sollte Abdülmecid eine gute Ausbildung genießen. Er sprach unter anderem Französisch, Deutsch, Englisch, Arabisch und Persisch und verfügte über umfassende Kenntnisse in Geschichte, Literatur und weiteren Wissenschaften. Dabei bemühte er sich, die Grenzen seines geistigen Horizonts über die des Palastes hinaus auszudehnen und pflegte Freundschaften mit osmanischen und europäischen Intellektuellen.

Erste Zeichenstunden erhielt er bei den Hofmalern seines Vaters und seines Onkels Abdulhamid II., bei dem polnischen Maler Stanislaw Chlebowski, dem russisch-armenischen Maler Iwan Aiwasowski und dem türkischen Künstler Osman Hamdi Bey. Sein Stil war bemerkenswert variabel und vom zeitgenössischen französisch geprägten Impressionismus beeinflusst. So umfasst sein Gemäldespektrum unter anderem Porträts, historische Ereignisse, Landschaften, Tiere und Frauen. Zudem komponierte er eigene Musikstücke.

Abdülmecid Efendi
Porträt Abdülmecid Efendis

Nachdem das Sultanat 1922 abgelöst wurde, war Abdülmecid nicht mehr Prinz, wurde aber von der türkischen Nationalversammlung zum Kalifen des Islam gewählt. Nachdem das Kalifat am 3. März 1924 abgeschafft wurde, verlor er auch diesen Titel und musste Istanbul verlassen. Über die Schweiz gelang er nach Frankreich und setzte in Paris seine künstlerische Tätigkeit bis zu seinem Lebensende fort. Sein Todestag, der 23. August 1944, fällt wie es der Zufall will, mit dem Tag der Befreiung von Paris von der deutschen Besatzung zusammen.

Der Harem als Erziehungsanstalt

Seine Art und Weise, Frauen abzubilden, weicht stark von den Normen des damaligen muslimisch-geprägten Publikums ab. Auf einem seiner Gemälde malte er sogar unbekleidete Damen, was in der damaligen Zeit nahezu undenkbar war und von großem Mut des Künstlers zeugt. Abdülmecid war überzeugt, dass Frauen Zugang zur Bildung und den Künsten haben sollten und war bestrebt, dieses zentrale Thema in seinen Werken aufzugreifen: Er zeigt die kultivierte und selbstbewusste türkische Frau etwa beim Lesen oder Musizieren. Mit dieser Herangehensweise enthüllte er ein ungewohntes Bild von Frauen im Harem und drückte gleichzeitig seine Offenheit gegenüber den universellen Künsten aus.

„Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen“ – Goethe

In Anbetracht seiner unbestreitbar breiten und fundierten Kenntnis religiöser Prinzipien sowie seiner Motivation der Emanzipation von Frauen im Islam vermittelt seine Wahl, sie derart abzubilden, eine stille, aber bedeutende Botschaft. Dass sich eine gesellschaftliche Umwälzung anbahnte, erkannte auch Abdülmecid und versuchte, mit seiner Kunst den zukünftigen Diskurs und die daran gekoppelte türkische Politik zu beeinflussen. Sein beeindruckendes Erbe für die Nachwelt und die junge türkische Republik, gegründet 1923 von Mustafa Kemal Atatürk, kann daher auch nicht von dieser Intention losgelöst betrachtet werden.

Beethoven im Harem

Seine Interessen an westlicher Malerei wie auch Musik bringt er 1915 auf dem Gemälde Beethoven im Harem in Einklang, noch während des Ersten Weltkriegs, an dem auch das Osmanische Reich beteiligt ist. Dieses Werk verdeutlicht dem Betrachter, dass die westliche Kultur auch längst den Harem erreicht hat. Auf dem Ölgemälde sehen wir eine Szene in einem im westlichen Stil eingerichteten Wohnzimmer, in dem ein Trio vor Publikum musiziert. Auf dem Boden liegt ein Notenbuch mit Beethovens Namen auf dem Titelblatt, und unter einem an der Wand hängenden Gemälde seines Lehrers Iwan Aiwasowski steht eine Marmorbüste Beethovens.

„Wahre Kunst bleibt unvergänglich.“ – Ludwig van Beethoven

Abdülmecids Bild zeigt seine Frau, Şehsuvar Kadınefendi, als Geigenspielerin. Hinter ihr befindet sich seine Tochter Hatice am Klavier, im Vordergrund spielt sein Sohn Ömer Faruk Cello. Abdülmecid Efendi bildet sich rechts im Bild selbst in Pascha-Uniform ab. Im Mittelpunkt dieses Werkes stehen also spezifisch die aufgeklärten Mitglieder seiner Familie und des Palastes, hier manifestieren sich die kulturellen Reflexionen des Westens.

Beethovens Harem aus dem Jahr 1915
Beethovens Harem aus dem Jahr 1915

Goethe im Harem

Ähnlich lässt sich auch sein Gemälde Goethe im Harem betrachten, das eine Frau auf einem Divan liegend darstellt, ebenfalls seine erste Frau Şehsuvar Kadınefendi. Sie blickt den Betrachter an und hält ein rotes Buch in ihrem Schoß, Goethes Faust. Das Gemälde spiegelt Abdülmecid Interesse an westlicher Literatur wider, die die Grenzen des Osmanischen Reiches damit sichtbar längst passiert hat.

Die eingebauten verschiedenen Symboliken schaffen ein differenziertes Bild für den Betrachter: Der gedruckte Faust erscheint als westliche Literatur in einer figurativen Stellvertreterrolle und deutet auf die Modernisierung und den durchlebten Scheideweg des Osmanischen Reiches.

„Zwei Seelen wohnen ach! in meiner Brust!“ – Goethe (Faust I, Vor dem Tor)

Die erhabene Frau im Harem agiert fast schon konträr zur europäisch-orientalistischen Wahrnehmung des Harems als ein Ort der Fantasien und Gelüste. Mit ihrer Frisur und ihren Kleidern, aber auch mit ihrem intellektuellen Verhalten ist sie von einer Frau aus der westlichen Welt kaum zu unterscheiden. Diese beiden Gemälde spiegeln das zeitgenössische Gesicht des osmanischen Palastlebens wider und offenbaren die innere Welt des Künstlers. Ein Gesicht, welches bedauerlicherweise heute sowohl im Westen als auch im Osten gleichermaßen verkannt wird.

„Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.“
⁃ Goethe

Text: Aykut Kaya / Bilder: Wikimedia Commons

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