Zu Gast bei Ali Zülfikar – Die Zeit anhalten

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An einem nasskalten Märztag besuche ich den Künstler Ali Zülfikar. An den Wänden hängen mit Bleistift gezeichnete Porträts. Sofort bin ich den Porträtierten ungewohnt nahe. Ali Zülfikar möchte die Seele der Menschen verstehen und mit seinen Werken ihre Geschichten erzählen. Bei einer Tasse Tee erfahre ich mehr über ihn und seine Kunst.

Ali Zülfikar

Ali, was hat dich eigentlich nach Deutschland verschlagen?

In meinem Ausweis steht, dass ich im Januar 1970 geboren bin, aber eigentlich kam ich am 15. März 1971 in Yavuzeli in der Türkei zur Welt. Wir sind eine sehr große Familie. Insgesamt habe ich elf Geschwister, ich bin die Nummer fünf. Ich habe von 1989 bis 1995 an der türkischen Universität Firat in Elazığ Darstellende Kunst studiert. Ich war politisch sehr aktiv und stand unter permanenter polizeilicher Beobachtung. Einmal war ich fast 14 Tage in Untersuchungshaft. Danach habe ich die Entscheidung getroffen, so nicht mehr leben zu wollen. Deshalb bin ich 1997 nach Deutschland gezogen. Zuerst lebte ich in Bremen, dann in Hagen und seit 2001 wohne ich in Köln. Hier habe ich mein Atelier und die Galerie Zeugma.

Ali Zülfikar

Wie würdest du deinen Stil beschreiben?

Meine ersten Erfahrungen habe ich in der Türkei gesammelt aber natürlich verändert sich der Stil mit der Zeit. Ich habe mit vielen verschiedenen Materialien experimentiert und ganz eigene Techniken entwickelt, wie zum Beispiel die Wollfarbe. Früher habe ich viel mit Farbe gemalt. Ungefähr ab 2000 habe ich angefangen, mich auf Porträts zu konzentrieren und vieles ausprobiert. Ende 2014 kam dann der Punkt, an dem ich gedacht habe: „Schluss damit. Du musst nur eine Technik verwenden.“ In dem Moment habe ich meinen Bleistift gesehen und wusste, das ist es! Bis jetzt hat noch kein Künstler mit dem Bleistift auf Leinwand gemalt. Meine Porträts sind kein genaues Abbild des Originals. Ich löse mich vom Gegenständlichen und zeichne Eindrücke, Charaktere, bestimmte Lichtverhältnisse. Das ist die Grundlage meines Anteils an der Weiterentwicklung der modernen figurativen Kunst. Ich baue meine Ideen aber natürlich ständig aus und irgendwann möchte ich gerne etwas auf ganz großem Format zeichnen. Eine Collage meiner eigenen Schaffensgeschichte auf zwei mal vier Metern. Anfangen möchte ich mit dem ersten Bild, an das ich mich bewusst erinnere. Mein Traum ist es, dieses Bild noch einmal aus meiner Erinnerung zu zeichnen.

Ali Zülfikar

Was war dein erstes Bild?

Ich war neun oder zehn Jahre alt und habe das Bild wegen meiner Freundin gezeichnet, die mir sehr wichtig war. Ich war ein bisschen eifersüchtig, weil jemand anderes besonders gut zeichnen konnte und dachte mir: „Das kann ich auch!“ Als ich meinem damaligen Lehrer das Bild zeigte, war er begeistert. Behalten wollte ich das Bild damals vor 35 Jahren nicht. Inzwischen habe ich einige Anzeigen geschaltet, um das Bild wieder zu finden und lange nach meinem Lehrer gesucht. Schließlich hat eine türkische Zeitung aus NRW eine Nachricht veröffentlicht und wenig später meinen Lehrer tatsächlich gefunden. Leider ist das Bild verloren gegangen. Wenn ich mein Projekt umsetze, werde ich versuchen, es noch einmal aus meiner Erinnerung zu zeichnen. Zu sehen war ein Schäfer, der unter einem Felsvorsprung sitzt. Neben ihm war ein Hund und im Hintergrund eine Schafherde auf einem Feld. Das Bild war auch eine Bleistiftzeichnung.

Was macht das Zeichnen mit dem Bleistift auf Leinwand so besonders?

Eigentlich hält Kohle auf Leinwand nicht. Die erste Herausforderung war also, die Zeichnungen haltbar zu machen. Das Besondere an dieser Technik sind die vielen verschiedenen Töne und Schattierungen, die ich mit dem Bleistift herausarbeite. Von Nahem sieht man die detaillierten Strukturen und die verschiedenen Ebenen. Erst dadurch entwickeln die Porträts ihre Intensität und Ausdrucksstärke. Ich arbeite Schicht für Schicht die Persönlichkeit des Menschen heraus. Das Schwierige ist, dass man Fehler bei einer Bleistiftzeichnung nicht korrigieren kann. Das fällt sofort auf. Deshalb muss ich vorher alles genau planen und versuchen, fehlerlos umzusetzen.

Ali Zülfikar

Auf deinen Porträts sind hauptsächlich ältere Menschen zu sehen. Was fasziniert dich daran, sie zu zeichnen?

Ältere Menschen haben alles, was Künstler brauchen. Das, was sie erlebt haben, steht ihnen ins Gesicht geschrieben; Trauer, Freude, Leid, Glück oder Zorn. Die Falten, die wenigen Haare, der graue Bart – sie alle erzählen eine Geschichte. Ich stelle mir dann die Frage: „Wie kann ich dem Respekt zollen?“ Ich nehme meinen Stift, das Gesicht und den Moment und schaffe eine Komposition. Dabei ist eine detailgetreue Darstellung der Proportionen ebenso wichtig wie eine unverfälschte Wiedergabe der Emotionen. Für mich ist jedes Gesicht wie eine Landkarte. Die Aufgabe des Künstlers ist es, die Seele des Menschen sichtbar zu machen, die Mimik und den Moment einzufangen. Es ist für mich eine Ehre, ältere Menschen zu malen.

Ali Zülfikar

Wer sind die Menschen, die du zeichnest?

Manche habe ich auf Kunstmessen oder auf Ausstellungen getroffen und sie einfach gefragt, ob ich sie zeichnen darf. Ich bin immer auf der Suche nach Motiven. Ich habe aber auch meine Großmutter gemalt, die vor zwanzig Jahren gestorben ist. Es gab eine Zeit, in der ich immer wieder von ihr geträumt und ihr Gesicht mit diesem einen Blick gesehen habe. Natürlich ist das eine Herausforderung, weil ich nur aus meiner Erinnerung zeichnen und den Moment einfangen kann. Mit einem Porträt kann man die Zeit anhalten und den Menschen im Stillstand betrachten. Es ist so, als ob man beim Filmschauen die Pause-Taste drückt.

Ali Zülfikar

Was ist dir an deinen Bildern am wichtigsten?

Für mich sind es die Augen! Die Augen kommunizieren mit dir, sie transportieren Gefühle. Aus dem Zusammenspiel von Licht und Schatten möchte ich etwas Besonderes entwickeln. Ein Lachen ist offensichtlich, aber mir geht es um das Besondere, die Feinheiten. Die Wirkung meiner Werke machen manchmal Kleinigkeiten aus wie Narben, Lachfältchen, feine Haare oder Adern. Sie sind Teil der Atmosphäre, die ich einfangen möchte. Und sie sind Teil der Geschichte, die ich mit meinen Bildern erzählen möchte.

Credits
Text: Katharina Dorp
Fotos: Maxi Uellendahl

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