Februar 2023 startete zum 11. Mal mit dem „World Hijab Day“, den Nazma Khan initiierte, um gegen Diskriminierung muslimischer Frauen aufmerksam zu machen und Solidarität mit ihnen zu ermöglichen. Ausgrenzung aus dem Berufsleben ist für sichtbar muslimische Frauen im Namen der Neutralität seit Jahren gesellschaftlich wie gesetzlich akzeptiert. Seien es Juristinnen, die Richterinnen werden wollen, Jurastudentinnen, die ein Referendariat absolvieren wollen, Lehrerinnen, die unterrichten wollen oder Bankkauffrauen, die arbeiten wollen. Im Januar 2023 bestätigt das Bundesverfassungsgericht erneut, was muslimische Frauen seit Jahren wissen: Dass das pauschale Verbieten des religiösen Kopftuches auf Grundlage des Neutralitätsgesetzes grundgesetzwidrig ist.
Um es als Betroffene noch klarer auszudrücken: Es war, ist und bleibt strukturelle Diskriminierung auf Basis antimuslimischer Ressentiments in der Gesellschaft und in der Politik, die junge Frauen muslimischen Glaubens in akademischen Berufen ausgrenzt und ihre Bekleidung durch Fremdzuschreibung kriminalisiert.
Das Neutralitätsgesetz
Während es sehr wichtig ist, die Säkularität und Neutralität des Staates zu wahren und zu gewährleisten, geschieht dies auf eine nicht neutrale und nicht säkuläre Art und Weise. Im Beschluss vom Januar 2015 führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass die „dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität“ als eine „offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung“ zu verstehen ist.
Es ist selbstverständlich und richtig, dass religiöse Glaubenszugehörigkeiten der Individuen in staatlichen Entscheidungen keinen Einfluss auf gefällte Urteile und verabschiedete Gesetze nehmen dürfen, da der Staat alle Bürger*innen gleichbehandelt und keinen Unterschied zwischen Religionszugehörigkeiten macht. Gleichzeitig ist es völlig absurd, dass eben jener Staat seine Beamt*innen nicht gleichbehandeln und einen Unterschied zwischen ihren Religionszugehörigkeiten machen soll.
Die Probleme hinter dem Gesetz
Es ist keine neutrale Lösung, Diversität und die vielen religiösen Zugehörigkeiten der Bevölkerung, für die letztendlich der Staat auch zuständig ist, aus dem öffentlichen Leben zu verbannen und unsichtbar zu machen.
Gerade dadurch ist der Staat nicht mehr neutral, da er lediglich diejenigen als neutral bezeichnet, die keiner Religion zugehören und nicht religiös aussehen. In anderen Worten: die weder jüdisch, noch christlich, noch muslimisch, noch hinduistisch, noch buddhistisch noch vielen weiteren Glaubensrichtungen zugehörig aussehen. Eine so als neutral vermittelte areligiöse Bevölkerung steht im völligen Kontrast zur Migrationsgesellschaft, die Deutschland in Wirklichkeit ist. Die einseitige Berichterstattung verhindert es, Debatten auf Augenhöhe zu führen.
Unter dem seit 1997 begonnen, 2005 gültigen, 2015 überarbeiteten und 2020 erneut verklagten Neutralitätsgesetzes ist es erlaubt, religiöse Symbole zu verbieten, wenn von ihnen eine Gefahr zu befürchten ist. Dies ist irreführend und nicht zielorientiert, denn Frauen muslimischen Glaubens stellen KEINE Gefahr für den Schulfrieden oder die Säkularität des Staates dar – weder eine „abstrakte“ noch eine „grundsätzliche“ oder eine „hinreichend konkrete“. Diese softe Propaganda, die unter dem Deckmantel der Neutralität geführt wird, erlaubt es, eine Gruppe von über vier Millionen muslimischen Deutschen zu marginalisieren. Die Realität sieht anders aus: Zwischen 2003 und 2020 arbeiteten 35 Lehrerinnen muslimischen Glaubens mit einem Kopftuch im Schuldienst.
Auf Nachfrage der AfD-Landtagsfraktion in Wiesbaden antwortete das Kultusministerium, dass „Streitigkeiten, die eine Störung des Schulfriedens bedeuten (…) in dem fraglichen Zeitraum nicht bekannt geworden“ seien.
Der Vorwurf der „Indoktrinierung“ und von extern mit dem Kopftuch konnotierten Begriffen wie „Patriarchat“ und „Unterdrückung“ stehen im gänzlichen Kontrast zu den betroffenen jungen Akademikerinnen, die selbstständig und unabhängig von allen Männern dieser Welt einer studierten Berufung professionell nachgehen wollen – im Einklang mit ihrem Eid, den deutschen Gesetzen treu zu bleiben. Der spirituelle Aspekt der individuellen Religionsausübung geht unter dieser Berichterstattung gänzlich verloren: Stattdessen löst der Anblick des Kopftuches aversive Gefühle aus, die es erschweren, dieser langwierigen Debatte Wind aus den Segeln zu nehmen.
Justizministerin Lena Keck bringt es auf den Punkt: „Eine Frau mit Kopftuch wird in gleicher Weise einen wunderbaren Staatsdient vollbringen können, wie eine Person ohne Kopftuch.“ Länder wie Großbritannien und Neuseeland machen es vor: 2020 wird Raffia Arshad die erste kopftuchtragende Richterin Großbritanniens und Zeena Ali die erste kopftuchtragenden Polizeibeamtin Neuseelands.
Der berechtigte Einwand, dass Frauen im Iran jedoch zum Kopftuch gezwungen werden und dies zu verurteilen und zu verhindern ist, ist gleichzeitig kein Freifahrtschein dafür, muslimische Frauen hierzulande zu unterdrücken. Dies ist keine Frage des „Entweder-Oder“ sondern eine des „Sowohl als auch“. Die Selbstbestimmung der Frau ist keine Einbahnstraße.
Das Neutralitätsgesetz in Berlin
Der Berliner Senat sollte die Erfahrung der letzten Jahre und die Perspektive Betroffener bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigen, denn der Verlauf der Debatten lässt unschwer die wahre Intention dahinter erkennen: die Verdrängung der muslimischen Frau aus der Öffentlichkeit. Mit Vehemenz stellt sich CDU-kirchenpolitische Sprecherin Cornelia Seibeld gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Es sei ein klarer Auftrag “dieses Gesetz so fortzuentwickeln, dass es rechtssicher wird“. Um Neutralität und Säkularität geht es bei diesem fortgeführten Kampf nicht. Dass es beim Aufflammen der Debatte stets um das islamische Kopftuch und nie um eine jüdische Kippa oder ein christliches Kreuz geht, deckt die zugrundeliegenden Motive auf: antimuslimische Ressentiments.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist „ein großer Schritt hin zu mehr Gleichberechtigung in unserer Gesellschaft“ sagt die Sprecherin für Antidiskriminierung der Grünen, Tuba Bozkart. Diese Entscheidung zu „respektieren“, wie Giffey sagte, reicht allein nicht. Ist es denn nicht aufrüttelnd genug, dass das Gesetz verfassungswidrig ist? Wir müssen als Gesellschaft endlich beginnen zu verstehen, dass die Neutralität der Beamt*innen und die individuelle Religionsausübung kein Widerspruch in sich sind, sondern Hand in Hand gehen.
Anders gewinnen wir den Kampf gegen Extremismus nicht – wir spielen damit lediglich rechtsgesinnten Menschen in die Hände und das zu Lasten junger, unabhängiger und selbstständiger muslimischer Frauen.
Text: Tuba Ahmed-Butt
Die Reportage soll die Gefühlslage der Autorin erfassen und gibt die Gesprächsinhalte im übertragenen Sinn wieder. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.