Gazino Berlin

Eine szenisch-musikalische Zeitreise zwischen Bosporus und Spree – in zwei Teilen

Berlin

Gazino Berlin bringt in zwei Teilen erstmalig die große Migrations- und Berlin-Istanbul Trilogie »Sonne auf halbem Weg« von Emine Sevgi Özdamar zur Aufführung und lädt das Publikum ein, sich gemeinsam auf die Zeitreise durch die Jahrzehnte vor und nach dem Anwerbeabkommen zu begeben.
Gökşen Güntel und ihr Ensemble kreieren dazu mit der vierköpfigen Band um Turgay Ayaydınlı und Aziza A. im großen Saal des Heimathafen Neukölln ein zeitgemäßes glamouröses Gazino*, lassen klassische türkische Musik auf die damals zeitgenössische Popmusik treffen und schlagen immer wieder einen Bogen ins Heute. Bei Rakı, Wein und Bier werden nicht nur die größten, absurdesten, traurigsten oder komischsten Momente der vergangenen Zeiten erlebbar – auch Gazino-Stars von damals wie Zeki Müren leben noch einmal auf der Bühne auf.

Entlang der Lieder vergangener Zeiten entspinnt sich die Geschichte einer ungewöhnlichen jungen Frau aus der Türkei der fünfziger Jahre bis ins heutige Berlin. Ein Lebensweg zwischen den Kulturen, zwischen Bosporus und Spree – immer auf der Suche, immer auf halbem Weg.

»Ich stieg in den Zug nach Deutschland ein, auch viele andere Frauen stiegen ein. Es gab nur einen einzigen Mann, der einstieg, es war der Zugleiter. Er verteilte an uns einen Plastikkrug mit Wasser, ein Paket Essen, 112 DM, die ein Teil unseres Monatslohns waren und ein Buch. Das Buch hieß: Handbuch für die Arbeiter, die in der Fremde arbeiten gehen.«

Wir durchleben im ersten Teil ihre Kindheit und Jugend in der noch jungen türkischen Republik zwischen ökonomischen Nöten, Aberglaube und Aufbruch und folgen ihrer Reise im zweiten Teil als Gastarbeiterin in Berlin bis zu ihrem politischen und sexuellen Erwachen.

Jeder der beiden Teile nimmt jeweils eine andere Dekade und deren Lieder in den Blick. Aus den Erfahrungen der ersten Generation entsteht so eine Erinnerung und Gegenwartsbefragung, indem sich das Ensemble pro Teil mehr und mehr selbst in die Geschichte mit hineinschreibt, kommentiert und Erinnerungen der eigenen Elterngeneration einfügt. Durch die Retrospektive versucht Gazino Berlin zu verstehen, was uns die Vergangenheit über unsere Gegenwart und vielleicht sogar unsere Zukunft verrät.
Anhand der Romane von Özdamar wirft Gazino Berlin einen Blick auf die türkischen Jahrzehnte bereits vor dem Anwerbeabkommen mit der Türkei und bringt diese Erfahrungen mit den Erlebnissen der ersten Einwanderergeneration in Deutschland in Verbindung – so wird die deutsch-türkische Geschichte um ein weiteres, wichtiges Kapitel ergänzt.
Durch die eigene Positionierung des Ensembles zur Geschichte und den Ereignissen von damals wird die künstlerische Vielfalt der deutsch-türkischen Berliner Community von heute portraitiert und dem aktuellen Rechtsruck und der Debatte um Integration eine differenzierte Auseinandersetzung und selbstbewusste Haltung entgegengesetzt. 

So wie jeder der beiden Romanteile bei Özdamar eine sehr unterschiedliche Sprache und Stilistik gefunden hat, spielt auch auf der Bühne jeder Teil mit einer eigenständigen Form für die jeweilige Wegstrecke unserer Protagonistin: während im ersten Teil die Schauspiel-Szenen und Musik interdisziplinär mit Live-Kamera und Video verwoben werden, sucht der zweite Teil eine abstraktere Form über das Wechsel von gelesenen Romanpassagen und den Liedern.

Teil 1 – #Özlem ist Sehnsucht

Im 1992 erschienenen Buch »Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus« werden die Umstände einer Kindheit und Jugend in der Türkei der 50er Jahre geschildert, die eine junge Frau schließlich zum Gehen nach Deutschland bewegen. Von der Geburt in Malatya, Anatolien, Ende der 40er Jahre, bis zur Zugfahrt nach Deutschland Mitte der 60er, begleiten wir das Heranwachsen eines Mädchens und die Odyssee ihrer Familie durch die Türkei – von Istanbul über Bursa bis nach Ankara – auf der Suche nach Arbeit. Während das Mädchen Kindheit und Jugend durchlebt, bleibt die Familie in permanenter Bewegung, innerlich und äußerlich. Die Zerrissenheit des Landes zwischen Tradition und Moderne spiegelt sich auch in der Familie wider. Da gibt es die alten Mythen, von der Großmutter erzählt, die Geisterbeschwörungen und die traditionelle Strenge, ebenso wie die Versprechungen des modernen Lebens mit den Nachtclubs, den amerikanischen Kinofilmen, den Aufstiegshoffnungen und der Sehnsucht nach einem guten Leben. Als die junge türkische Republik zunehmend auch politisch in die Krise gerät, die in dem ersten Militärputsch von 1960 gipfelt, sucht die Familie und vor allem unsere junge Frau nach einem Neubeginn.

Teil 2 – #İşçi heißt Arbeiter*in

Der nachfolgende Roman »Die Brücke vom Goldenen Horn« von 2002 setzt die Erzählung mit den Erlebnissen der jungen, kaum erwachsen gewordenen Frau als Gastarbeiterin bei Telefunken im West-Berlin der 60er Jahre fort. Während sie tagsüber im Akkord Radiolampen bearbeitet, träumt sie abends davon, Schauspielerin zu werden. Von der Einsamkeit, der kontrollierenden Frauengemeinschaft in Fabrik und Wohnheim, der Fabrikarbeit und dem starken Heimweh nach ihrer Mutter löst sie sich durch die Begegnung mit dem anderen Berlin – das der Straße, der alten Tanzlokale, der Kneipen, der Arbeitervereine und der Studentenunruhen. Wieder wird sie von den politischen Strömungen der Zeit mitgerissen, findet dabei Freunde, ihre erste Liebe und sexuelle Freiheit, aber bleibt auch immer auf der Suche nach einer inneren Heimat.

Der dritte Band »Seltsame Sterne starren zur Erde« der Trilogie, der aus den späten 1970ern im geteilten Berlin erzählt, wird corona-bedingt leider noch nicht zur Aufführung kommen können. Die drei Bände sind als Gesamtwerk »Sonne auf halbem Weg« zur Trilogie zusammengefasst – jeder der beiden aufgeführten Teile steht dabei eigenständig für sich und kann unabhängig vom anderen Teil angeschaut werden.

*Gazinos, das sind Nachtclubs mit Livemusik und Restaurantbetrieb. In der Türkei gibt es davon viele – die großen, bekannten aus den »goldenen Zeiten«, und die weniger angesehenen, versteckt in engen, dunklen Gassen. Auch in Berlin gab es Gazinos – doch heute ist diese Tradition so gut wie ausgestorben.

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Gazino Berlin – Eine szenisch-musikalische Zeitreise zwischen Bosporus und Spree

Regie: Gökşen Güntel
Konzept: Gökşen Güntel, Sabine Salzmann, Julia von Schacky
Mit: Gisela Aderhold, Uğur Kaya, Hasan Ali Mete, Hürdem Riethmüller, Mina Sağdiç
Livemusik: Aziza A.,Turgay Ayaydınlı, Yurdal Çağlar, Bekir Karaoğlan

Premieren am 29. September 2020 (Teil 1 #Özlem ist Sehnsucht) und 9. Oktober 2020 (Teil 2 #İşçi heißt Arbeiter*in) um 20:00 Uhr im Saal des Heimathafen Neukölln
Weitere Termine Teil 1: 27.9., 13.11. jeweils 20:00 Uhr
Weitere Termine Teil 2: 10.10., 14.11. jeweils 20:00 Uhr

Gazino Berlin wird gefördert durch die spartenoffene Förderung der Senatsverwaltung für Kultur und Europa

 

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