Der „Imperator“ der Arabeske-Musik

İbrahim Tatlıses ist nicht so süß wie er scheint

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Arabeske ist eine orientalische Musikrichtung, dessen Texte unerfüllte Liebe, Sehnsucht, die Kälte der Großstadt und Heimweh in den Mittelpunkt stellen. Sie gilt als Ausdruck von Verzweiflung, Trägheit und Fatalismus und ist für viele die ultimative Kummerarznei. İbrahim Tatlıses wird einerseits wegen seiner Arabeske-Musik vergöttert und andererseits wegen seiner angeblichen Verbindungen zur Mafia gefürchtet.

Violinen, Elektro-Bağlama, Darbuka und dazu leidvolle Texte

Im laizistisch geprägten türkischen Staat, in dem die kulturelle Elite großen Einfluss hat, wird die Arabeske zunächst verurteilt. Dementsprechend wird diese Musikrichtung bis in die 1990er Jahre im staatlichen Fernsehen und Radio nicht ausgestrahlt.

Doch erstaunlicherweise hat sie, trotz großer Ablehnung, enormen Erfolg und wird später sogar zur populärsten Musik der 70er und 80er Jahre. Ebenso kann sich die türkische Diaspora in Deutschland in dieser Musik wiederfinden. Vielleicht auch deshalb, weil die ersten arabesken Stars selbst Migrant*innen sind.

Chabos wissen, wer der Babo der Arabeske-Musik ist

Die Gallionsfigur der Arabeske

Der Babo (damit wird hier Boss gemeint und nicht das koreanische Wort 바보 (babo) mit der Bedeutung Idiot*in) der arabesken Musik ist İbrahim Tatlıses (dt. „süße Stimme“), genannt İbo. Im anatolischen Şanlıurfa erblickt er 1952 das Licht der Welt und wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Seinen musikalischen Durchbruch schafft der schnauzbärtige Macho Ende der 70er Jahre und erobert die Herzen von Millionen Türk*innen und Kurd*innen. Auch in der arabischen Welt wird er zu einem Phänomen.

Der Imperator kommt! Van tu tiri foro!

Er ist nicht irgendein Sänger. Er ist der James Brown des Orients. Er hat einen Status vergleichbar mit Elvis Presley, Michael Jackson, Freddie Mercury, Frank Sinatra und Helene Fischer zusammen. Er ist der „Imperator“ der Türkei. Neben seiner musikalischen Karriere ist er ein sehr erfolgreicher Showmaster, Schauspieler und Unternehmer. Die Bezeichnung als „Imperator“ hat er diesem Erfolg zu verdanken.

İbrahim Tatlıses in der Harald Schmidt Show

İbo, bitte melde dich…!“

…so ruft Harald Schmidt in seiner Show nach der „süßen Stimme“. 1998 tritt İbo dann bei ihm auf. Türkische und kurdische Migrant*innen in Deutschland jubeln ihm zu. In der Show regnet es rosa Ballons. Er verschenkt Rosen und singt. Da nicht alle Fans einen Platz bekommen, wird draußen eine Leinwand aufgestellt.

Attentat auf İbo

Der „Imperator“ ist unsterblich: 2011 wird aus einem Auto heraus ein Attentat auf ihn verübt, bei dem Kugeln aus einer Kalaschnikow hageln. Eine dieser Kugeln durchbohrt seinen Kopf und er ringt mehrere Tage mit dem Tod. İbo überlebt den Anschlag und ist seither einseitig gelähmt.

 „Mein Leben war immer Winter, nie Frühling – meine Blumen sind verwelkt – pflück‘ mich doch“.

(Zitat aus dem Song „Vur Gitsin Beni“, dt. „Erschieß mich doch“)

Tatlıses als Synonym für Gewalt und Kriminalität

Obwohl İbo Bewunderung für seine Musik genießt, wirft sein inakzeptables Verhalten den Mitmenschen, insbesondere Frauen*, gegenüber sowie die Verwicklung in mafiöse Strukturen einen großen Schatten auf ihn.  Die türkische Frauen*rechtlerin Ayşe Kısmet bezeichnet Tatlıses sogar als Synonym für Gewalt und Kriminalität. Eine seiner Freundinnen verprügelte er einst vor laufenden Kameras. Eine andere habe er von Gangstern ins Bein schießen lassen. Die Sängerin Yıldız Tilbe nennt er in seiner Show eine „Nutte“. Er habe sie aus den Händen der Zuhälter*innen gerettet, so İbo.

Warum Frauen* İbo hören, auch wenn er frauen*verachtend ist

Darf man İbo (insbesondere als Frau*) denn noch hören, wenn man das alles weiß? Bei Tatlıses scheiden sich die Geister – auch wenn viele ihn für ein schlechtes gesellschaftliches Vorbild halten, schließt das nicht notwendigerweise aus, dass seine Musik gefeiert wird.

Wie bei Mozarts Zauberflöte gibt es immer zwei Möglichkeiten der Wahrnehmung: Entweder man lässt sich von der schönen Musik verzaubern oder man hinterfragt die frauen*feindlichen Passagen. Die Mehrheit entscheidet sich für die erste Option – zumindest bei İbos Musik.

So singen auch Feminist*innen weiterhin bei dem Song Tombul Tombul Memeler (dt. „mollige mollige Brüste“) darüber, wie die Knöpfe sich nicht schließen.

 

Text: Berivan Kaya
Illustration: Yasmin Anılgan

 

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