Dieses Jahr wurde ein Plattenladen im Istanbuler Viertel Beyoğlu zum Ziel einer Attacke von Unbekannten – vor allem, weil der Plattenladen einen westlichen Lebensstil propagierte. Die Besucher sowie der Eigentümer des Plattenladens wurden an diesem Abend verletzt. Der Plattenladen wurde später geschlossen. Was bedeutet so eine Attacke für ein Viertel wie Beyoğlu und was macht es mit der Türkei? Eine Analyse.
Im Juni dieses Jahres, kurz vor dem gescheiterten Putschversuch, wurdeVelvet IndieGround Records im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu Ziel einer Attacke von Unbekannten. Zum Release-Streaming des neuen Radioheads-Albums hatten sich Musikliebhaber in dem Plattenladen versammelt. Während die Musik lief, für die sie gekommen waren, wurde auch Alkohol konsumiert. Plötzlich wurde der Laden gestürmt und die Angreifer beschimpften und verprügelten die Menschen, die sich nicht vor der Attacke in Sicherheit bringen konnten. Aussagen nach hatten die Angreifer den Laden vor allem wegen des Genusses von Alkohol im Fastenmonat Ramadan attackiert. Ahmet Misbah Demircan (AKP), Bürgermeister von Beyoğlu, bezeichnete den Vorfall laut Al Jazeera als eine „geplante Ermordung des sozialen Friedens“ – darin dürfte man ihm wohl zustimmen.
Doch was genau wurde wie attackiert? Was ist der Plan hinter dem Angriff und was bedeutet er?
Vordergründig richtete sich der Angriff gegen säkulare Menschen in der Türkei. Doch das hätte man auch mit jeder Bar oder jedem Laden in Beyoğlu, die Alkohol ausschenkt oder verkauft, machen können. Warum also ein Plattenladen? So richtet sich der Angriff nicht nur gegen säkulare Menschen, sondern symbolisch zudem auch gegen westliche Musik und Lebensstile, wie sie mit solcher Musik und Alkoholkonsum verbunden sind, sowie gegen den Stadtteil, in dem der Plattenladen situiert ist, und dessen sozialen Frieden.
Das alles dürfte nicht von ungefähr kommen.
Plattenläden sind in Istanbul keine Selbstverständlichkeit und kein Massenphänomen. Sie liefern nicht das Primärmedium für den Musikkonsum. Es handelt sich vielmehr um ein Nischensegment, das jedoch für das musikalische Leben in der Türkei zunehmend identitär relevant geworden ist. Das nicht nur, weil Plattenläden internationale Musik in das Land für türkische Musikfreunde hereinholen, eines der Ziele von Velvet IndieGround Records, sondern auch, weil türkische wie internationale Musikfreunde hier die Musik der Türkei (wieder-)entdecken können. Jene türkisch-westliche Musik der 1960er und 1970er Jahre, die mit dem Begriffen Anatolian Rock oder Anadolu Pop bezeichnet wird. Jene Musik, die staatlicherseits noch nie besonders ästimiert worden und sogar mit einem Bann belegt gewesen war, insbesondere nach dem Militärputsch Anfang der 1980er Jahre. Jene Musik auch, die seit etwa zehn Jahren eine rasante internationale Anerkennung gefunden hat, im Hip Hop wie im House oder Rare Groove, die weltweit in Clubs und auf Festivals gespielt wird, denen sich nun Labels wie Nublu (New York), Ostra Discos (Lissabon) oder Disco Halal (Berlin) zuwenden, um sie in ein zeitgenössisches Gewand zu remixen oder zu editieren. Jene Musik schließlich, die in Istanbuls Plattenläden von Forschenden wie Kornelia Binicewicz entdeckt und in Istanbul aber auch international begeistert präsentiert wird. Musik kurzum, die vorzugsweise für eine besondere, hybridisierte Verbindung von türkischem mit westlichem Leben steht und national wie international zahlreiche Menschen die Türkei und ihre (Musik-)Geschichte neu begreifen ließ.
Daher sind Plattenläden nicht nur Orte für den Abverkauf von Schallplatten, sondern kulturelle Entdeckungs-, Austausch- und Wissensorte. Sie bieten Orientierung in Sachen Lebensstil und Identität, und sie gebieten Freiheit und Toleranz – denn diese sind der internationalen wie der türkischen Pop-Musik, die sie vertreiben, immer wieder eingeschrieben.
In Istanbul gibt es solche Läden nicht nur in Beyoğlu, sondern stadtweit verstreut, mit weiteren Schwerpunkten in Beşiktaş und Kadıköy. Dass jedoch ein Plattenladen in Beyoğlu gewählt worden war, wo es genauso gut einer in einem anderen Stadtteil hätte sein können, ist signifikant. Denn Beyoğlu gilt als der westlichste Stadtteil, dort befindet sich auch ein entsprechendes Zentrum rund um den Taksim-Platz zusammen mit der Achse der İstiklâl Caddesi, gesäumt von Clubs, Bars, Restaurants und zahlreichen westlich orientierten Läden, von Mode bis zu Büchern und Medien. Velvet IndieGround Records liegt unweit der İstiklâl Caddesi entfernt.
Beyoğlu beherbergt zudem Religionsstätten mehrerer Religionen, zahlreiche diplomatische Institutionen und diverse Veranstaltungsorte, es ist vielleicht der Stadtteil, mit dem größten „Melting Pot“-Potenzial. Genau dagegen richtet sich die Attacke, welche islamische und politische Gleichförmigkeit verbreiten möchte anstelle der gelebten und akzeptierten friedlichen Pluralität. Diese steht im Fokus. Sie sollte getroffen werden – über den symbolischen Angriff auf einen so scheinbar unscheinbaren Plattenladen. Ja, es war eine „geplante Ermordung des sozialen Friedens“.
Herrschaft, das beschrieb schon Jacques Attali in seinem Buch „Bruits“ ausführlich, manifestiert sich über Musik. Revolutionen bemächtigen sich vorzugsweise der Radiosender, und das nicht nur der verbalen Kommunikation wegen, sondern immer auch, um die identitäre Musik der Revolutionäre zu verbreiten. Mit der Attacke in Istanbul haben wir eine inverse Bewegung vorliegen: der Schallplattenladen als „Sendeanstalt“ wird geschlossen, Nicht-Musik wird das neue Paradigma. Auch darüber kann sich Herrschaft manifestieren. Nicht von ungefähr nimmt das Schweigen türkischer Pop-Rock-Musizierender zu. Es wird lauter. Man kann es schon hören.
Text: Holger Lund
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