Trinkt man mit Dilek Mayatürk einen Tee, kann er schnell bitter werden: Beutel und Zeit sind schnell vergessen, wenn die 34-Jährige von sich erzählt. Sie ist eine sehr warme Gesprächspartnerin, erzählt von ihrer Leidenschaft für Sizilien und dem deutschen Winter, den sie nicht mag. Dilek wurde 1986 in Istanbul geboren und studierte dort sowie in Klagenfurt Soziologie, bevor sie als Dokumentarfilmerin arbeitete. 2014 erschien ihr erster Lyrikband „Cesaret Koleksiyonu“ („Mutsammlung“). Für ihre Gedichte wurde sie in der Türkei mehrfach ausgezeichnet.
Dilek und ich lernen uns im Oktober vergangenen Jahres in einem Café in Berlin-Kreuzberg kennen. Hier lebt sie mit ihrem Ehemann, dem Journalisten Deniz Yücel, und ihrer Katze. Einen Abend später wird sie im Café Bavul aus ihrem neuen Lyrikband lesen, “Brache” heißt er. Er ist damals wenige Wochen jung und im September vergangenen Jahres bei Hanser Berlin erschienen. Auf 112 Seiten erzählt Dilek darin von Schmerz, Wut und Liebe. Ihre Sprache ist ruhig und klar, ihr Ton bedacht und mahnend. Dieses Interview zu “Brache” haben wir im Januar dieses Jahres per Video geführt.
Liebe Dilek, du arbeitest vor allem nachts. Gibt die Nacht Dir etwas Besonderes?
Dass ich nachts arbeite, gehört zu mir. In meinem ersten Job, damals war ich 21, habe ich als Produzentin und Texterin von Dokumentarfilmen gearbeitet. Tagsüber war es im Büro häufig so laut, dass ich die Zeit nicht zum Schreiben nutzen konnte. Ruhe ist beim Schreiben sehr wichtig für mich. Wenn ich in einem Café voller Menschen sitze, kann ich Dinge vorbereiten, ich kann recherchieren und zusammentragen. Die inhaltliche Tiefe, die Konzentration aber, die funktioniert bei mir nur in der Ruhe: also Gedichte schreiben nur nachts.
Was ist wichtig für Dich, um arbeiten zu können?
Das hängt davon ab, was ich gerade mache. Gedichte schreibe ich immer auf Papier. Sie kommen manchmal so spontan zu mir, dass ich sie direkt in mein Notizbuch schreiben muss, um sie zu behalten. Das Notizbuch liegt auch nachts immer neben meinem Bett, damit ich meine Träume direkt aufschreiben kann, wenn ich aufwache. Kurzgeschichten oder längere Texte schreibe ich aber immer auf dem Laptop. Ich fühle mich wohl, wenn meine Bücher, meine Notizhefte und sogar meine Stifte in der Nähe sind.
Näherst Du Dich Themen anders, je nachdem, wie Du sie erzählst?
Was auch immer wir tun, schöpfen wir unser Material aus dem Leben selbst. Was ich sehe und höre, welche Erfahrungen ich mache oder wovon ich Zeugin werde – in alledem versuche ich die Details zu entdecken, die ich verarbeiten kann. Ich versuche, allem eine poetische Seite abzugewinnen. Die Welt steckt voller unglaublicher Details, man muss sich nur angewöhnen, auf solche Feinheiten zu achten. In dieser Hinsicht ähneln sich übrigens Lyrik und Fotografie – ich schreibe ja nicht nur Gedichte, ich mache auch Filme und fotografiere.
Die Gedichte, die Du in »Brache« sammelst, behandeln viele Themen. Häufig erzählen sie von der Suche nach Identität, von Liebe und Verlust. Wie entdeckst Du Themen, wer oder was inspiriert Dich?
Die Gedichte in »Brache« sind zwischen 2004 und 2020 entstanden. Das ist eine lange Zeit, in der sich nicht nur meine Art zu erzählen verändert hat, ich habe mich auch selbst verändert. Die Gedichte, die ich mit 18 geschrieben habe, sind andere als die mit 30. In dieser Phase des Lebens passiert so viel: Wir entdecken uns, schauen darauf, wer wir sind, wo wir hinwollen. Auch ich habe mich in dieser Lebensphase sehr intensiv kennengelernt. Wenn man älter wird, passieren seltener neue Dinge. All das zu reflektieren und aufzuschreiben, war immer auch eine Reise zu mir. Um inspiriert zu sein, brauche ich Input. Das kann Musik sein, aber auch das Gespräch zwischen zwei Menschen in einem Café. Ich versuche häufig, die Quintessenz eines Erlebnisses zu begreifen – und es dann für mich weiterzuerzählen.
Worüber denkst Du dann nach?
Ich habe damals anders auf Liebe, Verlust, Identität oder Heimat geschaut. Dass sich Perspektiven verändern und entwickeln, ist etwas sehr Normales. Manchmal schreibt man ein Gedicht, und es ist einfach fertig. Vor allem bei sehr kurzer Lyrik. Sie entsteht aus einem starken Gefühl, das ich dann für mich aufschreiben muss. In “Brache” zum Beispiel beim Gedicht “Roter Eimer”. Ich schrieb es in München, 2017 war das. Ich war gerade neu in der Stadt, hatte keine Wohnung, meine Freunde, meine Katze und meinen Mann nicht bei mir, es war sehr kalt. Die Zeit war schwer für mich. Ich fühlte mich sehr allein, aber auch sehr verantwortlich für mich. In “Roter Eimer” schreibe ich über die Türkei und das Wasser, es war damals mein Sehnsuchtsort.
“Was auch immer wir tun, schöpfen wir unser Material aus dem Leben selbst. Was ich sehe und höre, welche Erfahrungen ich mache oder wovon ich Zeugin werde – in alledem versuche ich die Details zu entdecken, die ich verarbeiten kann. Ich versuche, allem eine poetische Seite abzugewinnen.“
Du bist in Istanbul geboren. Welche Rolle spielt die Türkei und Herkunft für Deine lyrische Arbeit?
Die Türkei ist ein ungemein dynamisches Land, Istanbul eine ungemein dynamische Stadt. Jeden Tag ändert sich alles. In Istanbul geboren zu werden, ist schön und hart. Du musst dort für die Dinge kämpfen, die Du tun möchtest, für Deine Bildung zum Beispiel. Dennoch liebe ich diese Stadt. Sie bereitet für Vieles im Leben gut vor, Du lernst zu improvisieren. Wenn Du aus schwierigen Verhältnissen kommst, denkst Du über Vieles anders und häufiger nach. Gerade geht es mir gut und ich arbeite daran, weniger nachzudenken. Aber die Erfahrung, unter schwierigen Verhältnissen aufgewachsen zu sein, macht einen feinfühliger.
Hast Du Vorbilder in der türkischen Lyrik, die Dich beeinflussen?
Beeinflussen ist nicht das richtige Wort. Ich bin interessiert und lerne von ihnen. Ich nehme das, was mir gefällt und versuche, daraus eigene Gedanken für meine Arbeit zu entwickeln. Aus der türkischen Lyrik lese ich seit meine Jugend sehr gern Metin Altıok, Gülten Akın und Edip Cansever – und lese sie immer wieder gerne. Trotzdem ist es wichtig, eine eigene Stimme zu finden. Bei mir ist das ein noch andauernder Prozess. Auch deutsche Autorinnen und Autoren, Ingeborg Bachmann oder Bertolt Brecht, versuche ich neuerdings in der Originalsprache zu lesen. Der Dialog zwischen den Sprachen ist extrem wichtig. Jede hat ihren eigenen Klang, hinterlässt ihre eigene Spur, gibt einen anderen Reiz. Ich lerne von diesen Menschen, lerne von ihrem Stil. Letztens habe ich die Gedichte von Lili Grün kennengelernt. Ihre Werke öffnen meine Gedanken, öffnen wieder eine neue Welt für mich.
Kannst Du schon sagen, was Deine nächsten Projekte sein werden?
Das Wichtigste ist weitermachen. Gerade schreibe ich an einem Manuskript für einen neuen Lyrikband und zugleich an meinem Debütroman. Außerdem arbeite ich mit einem österreichischen Schauspieler an der Vertonung von „Brache“. Er liest die Gedichte auf Deutsch, ich auf Türkisch. Das macht uns beiden großen Spaß, weil wir die Sprache des anderen wie Musik hören. Und ich würde gerne mal wieder einen Dokumentarfilm drehen und habe schon einige Ideen dafür.
Autor: Florian Gontek